PF – Wir haben heute ein Buch anzukündigen, das dich nicht als Autor, sondern als Herausgeber ausweist, und ein Roman ist es auch nicht, sondern ein – ja, was eigentlich?
PvM – In Bibliotheken heißt so etwas ein Sachbuch. Worum es geht, ist einfach, und dennoch nicht einfach zu sagen. Ruf erst mal den Titel aus.
PF – „2015: Briefe für die Deutsche Post.“
PvM – Na also, das sind wir schon einen Schritt weiter. Der Titel stammt immerhin von mir, und ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht. Man beachte, es heißt nicht, Briefe an die Deutsche Post, sondern Briefe für die Deutsche Post, die Präposition „für“ kann vieles bedeuten. Ursprünglich hatte ich sogar vor, das Büchlein „Texte für die Deutsche Post“ zu nennen, aber „Briefe“ schien mir persönlicher und konkreter.
PF – Büchlein, na ja. Das Büchlein umfasst in der Druckausgabe immerhin 506 Seiten. Da schreibt also einer Briefe für und über die Deutsche Post? Trockenes Thema, möchte man meinen. Die Deutsche Post, das ist ein Dienstleister, befördert Briefe und Pakete, und wir sind im Allgemeinen froh, wenn sie tut was sie soll, was kann man da schreiben?
PvM – Also ungefähr in die Richtung hab ich auch gedacht, bevor ich die Texte in die Hand bekam, aber die Lektüre hat mich schnell eines Besseren belehrt, und es geht auch eigentlich nicht nur um die Post, sondern um die moderne Zivilisation und ihren Wert insgesamt, mit all ihren technischen Zurüstungen und Behelfen, die unser Leben mittlerweile bis in seinen innersten Kern bestimmen. Sind wir dafür oder dagegen? Der anonyme Autor unserer Texte sagt, selbst wenn wir „dagegen“ sind, leben wir doch aus diesen Voraussetzungen, wir mögen sie kritisieren wie wir wollen, und deshalb, so meint er, eignet dem Dagegensein leicht etwas Schiefes, Unehrliches.
PF – Da hast du das Stichwort schon genannt, anonym. Das steht ja auch auf dem Titelblatt, „von Anonymus“. Wer ist das?
PvM – Eben einer, der anonym bleiben will. Anonymus war Briefträger bei der Deutschen Post, wurde dann Teamleiter, das ist ein Briefträger, der als Chef vor Ort sich um die Zusteller – so heißen die Briefträger und Paketboten bei der Deutschen Post – kümmert, sie sachte dirigiert und in der Spur hält, und der in einem Wort dafür sorgt, dass der Laden läuft. Im Allgemeinem sind einem Teamleiter zehn bis zwanzig Zusteller zugeordnet. Ein Teamleiter ist also einer, der das Ohr am Puls des Geschehens hat, unmittelbar dran ist, sich direkt mit seinen Leuten auseinandersetzt und täglich und konkret die Dinge am Laufen hält —
PF – Klingt irgendwie aufregend. Was soll denn an der Post aufregend sein?
PvM – Nochmal, das hab ich auch gedacht. Wenn du aber die Texte von Anonymus liest, wirst du anderen Sinnes. Ich will nicht gerade behaupten, du kriegst dann Lust, selber rauszugehen und Briefe in den Kasten zu schmeißen – wir werden übrigens belehrt, der korrekte Ausdruck lautet, Briefe in den Kasten „einlegen“, nicht „schmeißen“ – aber nach der Lektüre siehst du die Tätigkeit des Briefträgers mit anderen Augen, das kann ich versprechen, und deshalb hab ich mich auch entschlossen, diese „Briefe“ herauszugeben.
PF – Worum geht es?
PvM – Wie der Titel schon sagt, geht es um das Jahr 2015. 2015 war ein bedeutsames Jahr für die Deutsche Post. Das erste Halbjahr stand ganz im Zeichen des Konflikts mit der Gewerkschaft ver.di. Ursache des Konflikts war die Gründung der sogenannten „Deliveries“, das waren Subunternehmen, die die Post gründete, um Paketzusteller beschäftigen zu können, die nicht nach den postalischen Tarifverträgen bezahlt wurden, sondern nach den allgemeinen, für den Arbeitgeber günstigeren, Tarifverträgen der Transportbranche. Die Gewerkschaft und ein Teil der Mitarbeiter fürchteten, dass das Management mit dieser Maßnahme nur einen ersten Schritt täte, die Post zu zerschlagen, das Ende war der schwerste und längste Streik, den die Deutsche Post je erlebt hatte, und der das ganze Land in Mitleidenschaft zog. Das zweite Halbjahr 2015 sah die sogenannte Flüchtlingskrise, als in Folge des syrischen Bürgerkrieges mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gelangten und Aufnahme fanden. Die Deutsche Post positionierte sich deutlich und sofort für Aufnahme und Integration dieser Leute.
PF – Was hat dein Anonymus damit zu tun?
PvM – Will ich erklären. Die Deutsche Post unterhält eine digitale Plattform für ihre Mitarbeiter, das sogenannte Extranet, praktisch ist das ein facebook für Mitarbeiter, Außenstehenden unzugänglich, die Mitarbeiter können sich da zu Worte melden, Gruppen aufmachen, ihre Meinungen äußern, Fragen stellen, Hilferufe ausstoßen, und so weiter. Es gab neben vielen anderen Gruppen auch eine Gruppe der Teamleiter, und Anonymus war Administrator dieser Gruppe. In dieser Eigenschaft äußerte er sich vielfältig zu dem Unternehmen, insbesondere natürlich zu dem Streik, und die Beiträge, die er in’s Extranet einstellte —
PF – Ah! die bilden die Grundlage für diese „Briefe an die Deutsche Post“?
PvM – Du hast es erfasst. Aber nicht nur das. Anonymus bezog während des Streiks deutlich Position für die Deutsche Post und gegen die Gewerkschaft, er brachte es als Teamleiter sogar fertig, dass sich von seinen Schützlingen kein einziger am Streik beteiligte, seine Poststelle war sozusagen streikfrei, aber das muss ihm enorme Feindschaft von den ver.di-Aktivisten eingetragen haben, denn der Streik kaum beendet, und zwar mit einem Ergebnis, das seiner Gegnerschaft auch im Rückblick Recht gibt, warf er seine Administratorentätigkeit dahin und machte im Extranet eine eigene Gruppe auf, die er „Gegenströmung. Forum für Kampfschwimmer“ nannte, und deren Ziel es war, grundsätzlich über die Deutsche Post nachzudenken. Was ist der Sinn des Unternehmens, welche Rolle spielt es in der modernen Lebenswelt, was macht es mit den Leuten, die ihm ihre Arbeitskraft widmen? – Fragen dieser Art, zu denen schrieb er einen Beitrag nach dem anderen.
PF – Das Buch ist nicht ganz dünn, wieso war der Mann so schreibfreudig? So stellt man sich einen Briefträger eigentlich nicht vor.
PvM – Der war, sozusagen, kein geborener Briefträger. Akademischer Hintergrund. Abgeschlossenes Studium. Dass er bei der Post landete, hatte persönliche Gründe, er hat mir einiges anvertraut, aber sorry, ich bin entschlossen, seinen Wunsch nach Anonymität zu respektieren. Jedenfalls merkt man seinen Texten die Formulierungsfähigkeit und auch den Formulierungswillen an, und das ist der Grund, warum ich mich entschlossen habe, sie herauszugeben. Der Mann schreibt engagiert, temperamentvoll, ungerecht, manchmal explosiv, immer kontrovers, er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, die Lektüre ist jedenfalls niemals langweilig. Die Thematik seiner Ausführungen weitet sich aus, es geht schließlich nicht nur um den Sinn und Wert der Deutschen Post und der Arbeit für sie, sondern auch um den Sinn und Wert der modernen Marktgesellschaft, wobei Markt definiert ist als der freie Markt der Meinungen und der Waren —
PF – Ganz schön gewichtige Themen für einen Briefträger —
PvM – Anonymus ist eben der Meinung, und er gibt dieser Meinung eloquenten Ausdruck, dass, wer für die Deutsche Post arbeitet, aktiv am Vorankommen und Gedeihen des Marktes mitbastelt. Das ist der Kern seiner Ausführungen, das macht seine Ausführungen zuweilen auch heftig und unversöhnlich, weil er der Meinung war, dass ver.di mit dem Streik des Jahres 2015 nicht nur dem Unternehmen geschadet habe, sondern er hat den Streik geradezu als einen Angriff auf das System der Marktwirtschaft verstanden, als den Versuch, dem Unternehmen und uns allen einen ausgedachten Plan aufzuzwingen.
PF – Und das alles wird ausdiskutiert in diesen Texten?
PvM – Mehr noch, Anonymus, der ja für seine Kollegen und Mitarbeiter schrieb, äußerte sich überzeugt, dass eigentlich jeder Briefträger sich einen Gefallen tue, wenn er über solche Dinge gelegentlich nachdenke, denn ein erfülltes Leben könne es eigentlich nur geben, wenn man in der Tätigkeit, die man doch jeden Tag und berufsmäßig ausübt, eine guten Sinn erkenne.
PF – Schwer zu widersprechen. Wenn man dir so zuhört, klingt es fast so, als ginge es in diesen Texten glatt um den Sinn des Lebens.
PvM – Gar nicht falsch. Der Mann hat sich richtig reingekniet, er wollte seinen Kollegen helfen, Anstöße geben, und seine Motivation ging noch weiter. In der Deutschen Post gibt es, wie ringsum im Lande auch sonst, eine wachsende Zahl von Mitarbeitern, wie sagt man, mit Migrationshintergrund, aus wie vielen Ländern kommen die? kann man kaum noch überblicken, sie haben aber alle das eine gemeinsam, dass viele von ihnen nur mühsam deutsch sprechen. Da muss man was tun, sagte sich unser Anonymus, und richtete einen Deutschkurs ein. Deutsch für Mitarbeiter, die das nicht so recht können. Er gab diesen Unterricht selber, er war dafür qualifiziert, von seinem Studium her, und seine Absicht war, die teilnehmenden Mitarbeiter so weit zu bringen, dass sie im postalischen Alltag zurechtkamen, mit Kollegen und Dienstvorgesetzen reden konnten und vor allem mit Kunden, und die Mitteilungen der Post lesen und verstehen, dazu musste natürlich der reiche Postwortschatz vermittelt werden, für so etwas gibt es keine Lehrbücher auf dem Markt, also schrieb Anonymus seine Unterrichtstexte selber, ich fand sie so amüsant, dass ich sie wenigstens zum Teil in „2015“ mit aufgenommen habe, sie sind in Dialogform abgefasst, zwei Zusteller sind unterwegs, Apostel und Bepostel, Apostel ist älter und erfahren, Bepostel lernt noch, da kann alles zur Sprache kommen, was anliegt —
PF – Der Mann hat also richtig Deutschunterricht bei der Post gegeben? Was hat der sonst noch alles gemacht? Briefträger Teamleiter Administrator Deutschlehrer, ist der überhaupt noch zu Atem gekommen?
PvM – Man fragt sich. Mit seinen Aktivitäten, insbesondere mit dem Deutschunterricht, hat er jedenfalls konzernweit Aufsehen erregt, er wurde mehrmals in die Konzernzentrale eingeladen, wurde zu seiner Tätigkeit befragt, es gab einen Film über ihn, der bei Lehrgängen für Teamleiter vorgeführt wurde, die Hauszeitschrift der Deutschen Post berichtete über ihn, einmal war er bei einem zentralen Postfest in Berlin zu Gast, man kann sagen, irgendwer war der nicht —
PF – Also jedenfalls kein typischer Briefträger. Wie bist du an den geraten?
PvM – Wie es eben so geht. Wir haben einen gemeinsamen Bekannten, der arbeitet im Tower, das ist die Konzernzentrale in Bonn. Der hat mir eines Tages die Texte vorgelegt, die Anonymus für die beiden Gruppen im Extranet, erst die Gruppe der Teamleiter und dann die eigene Gruppe „Gegenströmung“, geschrieben hat, und hat gesagt, er hielte sie für veröffentlichungswürdig, und nach der Lektüre sagte ich das auch, und also habe ich mich an die Arbeit gemacht. Ich musste eigentlich gar nicht viel tun, da ein bisschen kürzen, die Orthographie normalisieren (er hat noch die alte Rechtschreibung benutzt), dort eine Namensnennung unterdrücken, einige polemische Texte, bei denen es um Personen ging, die für Außenstehende nicht von Interesse sein können, habe ich weggelassen, ich hab sie aber noch auf meiner Festplatte – und ich dachte schon, die Hauptarbeit sei getan, da stellte sich als wirkliche Schwierigkeit genau das heraus, was auch Gegenstand seines Deutschunterrichts war: das Postvokabular. Die Deutsche Post hat, wie alle modernen Arbeitswelten, ihren eigenen Wortschatz herausgebildet, der für Außenstehende unter Umständen schwer oder gar nicht verständlich ist, und da Anonymus als Postler für ein Publikum aus Postlern geschrieben hat, hat er diesen Wortschatz ausgiebig benutzt. Zunächst schwebte mir vor, diese Wörter vielleicht per Fußnote zu erläutern, aber so einfach ging das nicht, die Fußnoten wären zu lang geworden und hätten den Lesefluss empfindlich gestört, der Ausweg war, an den Haupttext ein alphabetisches Glossar postalischer Begriffe anzuhängen, jedenfalls soweit sie im Text vorkommen, und genau das habe ich gemacht.
PF – Kennst du dich denn so gut aus, dass du das ohne Weiteres hast machen können?
PvM – Keine Spur. Ich hab mir Hilfe geholt. Erst hab ich eine Liste erläuterungsbedürftiger Wörter erstellt, und dann hab ich rumgefragt und hab mich kundig gemacht, auch das Internet war hilfreich. Aber ich kam in’s Schwitzen. Wie leicht ist es im Vergleich, Texte einfach zu erfinden!
PF – Wenn du das sagst … Jedenfalls, du bist zu Potte gekommen und hast das Glossar fertiggestellt. Dass du das gemacht hast, hatte aber noch einen anderen Grund?
PvM – Ja. Einen Grund, der mich sozusagen professionell bewegt hat, also mich als Schriftsteller. Um das zu erklären, muss ich ein bisschen ausholen —
PF – Ich bin ganz Ohr —
PvM – Die moderne Literatur, ich meine die Romanliteratur, steht eigentlich vor einer gewaltigen stofflichen Vermehrung. Die Welten, die wir erkennen und bewohnen, werden mit jedem Tag vielfältiger und zahlreicher, und es ist irritierend, wie wenig Gebrauch die Literatur von dieser Fülle macht. Der Prozess begann schon im 19. Jahrhundert, den Europäern wurde der ganze Globus bekannt, mit einer unüberschaubaren Fülle von Kulturen und Gemeinschaften, von nie gedachten Lebenswelten, fremden Religionen, Gebräuchen, fremder Musik, fremden Gebäuden, fremden Sprachen, fremden Himmeln und Sternbildern, was weiß ich, und der Prozess der umfassenden Kenntnisnahme erstreckte sich nicht nur über die blauen Ozeane, jenseits deren unbekannte Länder warteten, sondern auch hinein in die Tiefe der Zeit, alle Vergangenheiten wurden erforscht, soweit sie nur in’s Blickfeld der Europäer gerieten. Die Naturwissenschaften eroberten immer neue Regionen des Beachtenswerten, und gleichzeitig wurden die europäischen Gesellschaften immer differenzierter, immer vielgestaltiger – alles Material für die Romanliteratur, alles Rohstoff für die Darstellung. Könnte man meinen. Manches Gelände, in der Tat, wurde literarisch erobert, so erlebte die Gattung des historischen Romans eine Blüte, die fremden Länder hinter den Horizonten wurden immerhin vom Abenteuerroman bereist, aber weiter? Was ist mit den Welten, entdeckt und erschlossen von den Naturwissenschaften? Hier ist vor allem die Science-Fiction-Literatur tätig, nicht wenige Handlungen sind hier physikalisch-mathematisch-chemisch-biologisch informiert, mal mehr, mal weniger tiefschürfend. Gibt es eine breite Romanliteratur, die sich einlässlich und kenntnisreich und literarisch ernstzunehmend mit dem Leben der Tiere befasst? keine Rede, wiewohl wir doch heute über die Tiere besser Bescheid wissen als alle Generationen zuvor. Man könnte stundenlang so weitermachen. Provinzen um Provinzen menschlicher Weltwahrnehmung, und alles, eigentlich, Rohstoff für literarische Bearbeitung. Es ist irritierend zu sehen, wie sehr dieser stofflichen Erweiterung vonseiten der offiziellen Literaturkritik mit Naserümpfen begegnet wird. Die Romanliteratur, so lautet die offizielle Doktrin, habe die Gesellschaft kritisch zu begleiten, und in der Tat, kritisch gesellschaftskritisch sozialkritisch, das werden viele Autoren gerne. Kennen sie die Gesellschaft, die sie kritisieren? Haben sie eine Ahnung vom Leben ihres Briefträgers ihres Metzgermeisters ihres Bibliothekars ihrer Ärztin ihres Pfarrers ihres Automechanikers ihres Computerspezialisten ihres Reiseberaters ihres Zeitschriftenhändlers um die Ecke und und und? gar vom Leben und von der Tätigkeit eines Controllers? wissen sie überhaupt, was das ist? im Allgemeinen nicht. Wenn es um die Einlässlichkeiten des modernen Lebens geht, drücken sich moderne Romane. Sie folgen dem Briefträger nicht hinaus in seine Arbeit, sondern bleiben bei dem stehen, was sie zu kennen meinen, bei den täglichen Privatheiten, bei dem Ehekrach, bei den politischen Anschauungen, die sie für falsch und kritikwürdig halten —
PF – Ich ahne, worauf du hinauswillst —
PvM – Nicht wahr. Die Texte von Anonymus tun das, worin uns die Romanliteratur, die doch eigentlich zuständig wäre, im Stich lässt: sie führen uns hinaus in eine konkrete Arbeitswelt, in der Zehntausende von Menschen Tag für Tag zugange sind, und von der wir Außenstehenden, seien wir ehrlich, nicht wirklich etwas wissen. Wir sehen den Briefträger durch unser Gesichtsfeld wischen, er klingelt bei uns, in Wahrheit haben wir keine Ahnung, was der da eigentlich macht. Anonymus erzählt es uns. Erzählt es uns so, dass es unser Interesse weckt, und oft genug unsere Anteilnahme. Siehst du, das ist der eigentliche Grund, warum ich mich an die Herausgabe dieser Texte gemacht habe: weil sie uns etwas mitteilen, was die meisten von uns nicht wissen. Was eine Literatur gar nicht in den Blick bekommt, die die Dinge immer schon kritisch hinterfragt, bevor sie sie überhaupt kennengelernt hat. Sollte das Verfahren nicht umgekehrt sein? Erst die Dinge gründlich kennenlernen, dann, vielleicht, sie befragen? Aber wer die Dinge kennenzulernen sich bemüht, muss von der wohlwollenden Voraussetzung ausgehen, dass diese Dinge, bis zum Erweis der Gegenteils, von gutem Sinn erfüllt seien. Das will aber eine Literatur nicht, die erstens als ihre Geschäftsgrundlage betrachtet, dass diese Gesellschaft überhaupt und grundsätzlich ein Höllenort sei – die Unterdrückung! die Ausbeutung! die Erniedrigung! die Frauen! die Farbigen! – und dass, zweitens, und noch viel grundsätzlicher, menschliches Existieren überhaupt keine anderen Gefühle zu erregen geeignet sei als grölenden Schrecken. Das Grauen! die Ausweglosigkeit! die existenzielle Geworfenheit! die Unbehaustheit! die Entfremdung! So in der Art. Literatur, die sich interessiert auf die unauslotbare Fülle der Welt einlässt, steht von vornherein unter Eskapismusverdacht, das ist Literatur, wird gesagt, mit deren Hilfe der Kapitalismus uns Ausgebeuteten Sand in die Augen zu streuen sucht. Hier ist Anonymus ganz anderer Ansicht. Er betrachtet unsere Gesellschaft als grundsätzlich sinnvoll, er hält es für sinnvoll, wenn wir versuchen, sie zu fördern und voranzubringen. Er beschreibt, wie wir das machen können. Er betrachtet das gewaltige Unternehmen „Post“ mit Anteilnahme und Wohlwollen, es ist eine gute Sache, sich dafür einzusetzen, sagt er. Er sagt sogar, es ist phantastisch, kaum glaublich, dass es so etwas wie Post überhaupt gibt, man könnte sich so etwas nicht ausdenken, man möchte es gar nicht für möglich halten, dass so etwas überhaupt funktioniert, und dennoch, wir, so sagt er, wir, die Mitarbeiter der Deutschen Post, stecken mittendrin und halten den ungeheuren Apparat am Laufen, den Apparat, den keiner vollständig überblicken kann, und trotzdem bewegt er sich fort, erfüllt eine nützliche und sinnvolle Funktion in einer Gesellschaft, die selber Anspruch darauf machen darf, sinnvoll zu sein. Über all das schreibt Anonymus, von all dem erzählt er.
PF – Und du hast das jetzt herausgegeben.
PvM – Ja. Und ich denke, ich habe recht daran getan. Ich denke, es war eine gute Sache, dass ich meine Zeit und Kraft darauf verwendet habe, diesen Text in die Welt zu bringen. Ich hoffe, er findet die Leser, die er verdient.
(Das Gespräch mit Peter von Mundenheim führte Peter Flamm am 04.03.2025. Bleibt noch, die bibliographischen Einzelheiten nachzutragen:
2015: Briefe für die Deutsche Post, von Anonymus. Herausgegeben und mit einem Vorwort sowie einem Glossar postalischer Begriffe versehen von Peter von Mundenheim. Erschienen im Verlag Peter Flamm, Schauernheim 2025. E-Book ISBN 978-3-946660-14-9. Paperback ISBN 978-3-946660-15-6. Druckausgabe 506 Seiten. Erhältlich in beiden Ausgaben bei amazon sowie im Buchhandel auf Papier.
Illustration: Posthorn der Deutschen Post. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Deutsche-post-horn.svg. Urheber und Rechteinhaber ist die Deutsche Post AG, die Datei darf in mit dem Logo im Zusammenhang stehenden Artikeln verwendet werden.)