(Das Folgende ist ein Auszug aus: Peter von Mundenheim, Weldbrüggen, Druckfassung ab Seite 557)
Nachricht von Diana Crackston
Man sollt nicht glauben, dass Quirin Schriftsteller ist, so wie der ächzt mit dieser Sache. Ich erzähl euch mal, wie ich das gesehen hab, ohne lange Umstände.
Und natürlich hatte ich keine Ahnung von dem, was an diesem Abend noch alles passieren würde.
Wir schafften es, Ayla in präsentable Klamotten zu bringen, wie schafften es, sie aus dem Haus zu lotsen. Das war noch am Nachmittag. Wir hielten sie in der Mitte wie ein ängstliches Hündchen, und sie hielt den Blick zu Boden gesenkt, und QvW war so offensichtlich mit den Gedanken woanders, dass ich ihn daran erinnern musste, das Garagentor zu öffnen, sonst wär er einfach davor stehen geblieben, mit der Fernbedienung in der Hand.
Stimmt, ich hab mich umgeguckt, aber nicht nach diesem Volldepp Jeremy. Ich hab geguckt, geb ich zu, ob ich nicht vielleicht was seh, von euren „Besuchern“.
Nichts. Niemand. Natürlich nicht. Angeblich, so jedenfalls die Ansage von QvW, kommen sie ganz dicht an mich ran, wenn ich im Freien auftauche, QvW sagt, die beriechen mich regelrecht, ich merk nichts.
Wir schafften es in den Wagen, und wir fuhren los, QvW am Steuer, Ayla und ich auf dem Rücksitz, und Ayla den Kopf an meiner Brust, sie vergrub sich richtig, um die böse Welt nicht sehen zu müssen. Ich dachte, das Beste wird sein, ich nehm sie mit nach Hause, wo die anderen Kinder warten, da kann ich auf sie aufpassen.
Und ich wusste, wenn ich das vorschlage, wird sie sagen, ich bin kein Kind.
Und Platz für sie hab ich daheim sowieso nicht, was solls, QvW, sieh selber zu, wie du mit der Sache zurechtkommst, Ayla ist dein Problem, dein süßes kleines rundes türkisches Problem.
Scheibchen türkischer Honig, pass nur auf, dass du dir nicht dran den Magen verdirbst.
Nachricht von Ayla Jankowski
Ich bin nicht das Problem. Zeit meines Lebens waren da Leute um mich rum, die haben mit dem Finger auf mich gezeigt und gesagt, du bist das Problem. Meine Scheiß Familie hat das gesagt, der Jankowski hat das gesagt, als er abgehauen ist, in der Klapse haben sie es gesagt, wir müssen dich jetzt therapieren, denn du bist das Problem.
Ich bin nicht das Problem. Da draußen das alles, das wächst mir über den Kopf. Ich wollt alles richtig machen. Vielleicht hab ichs übertrieben. Ich wollt alles so richtig machen, dass die ganze Welt richtig wird. Das kann niemand. Die Besucher. Wenigstens denen wollt ich helfen. Wenigstens für die wollt ich alles richtig machen. Für die war ich nicht das Problem. Für die war ich die Lösung. Und für ein paar Stunden hab ich das wirklich geglaubt, ich bin die Lösung. Und dann bin ich abgestürzt. Und jetzt häng ich rum und fang an zu heulen, sobald mich nur jemand anspricht. Egal was ist, Diana sagt ein freundliches Wort zu mir, ich fang an zu heulen. Oben auf dem Fons, ich hab die ganze Zeit bloß geheult. Ich will das nicht, irgendwie sind da die Schleusen aufgegangen, und die Schleusen wollen einfach nicht mehr zugehen. Da muss irgendwann das Wasser ausgehen. Soviel Wasser kann überhaupt nicht sein, in der Welt. Irgendwann hab ich keine Tränen mehr. Und was dann?
Nachricht von Quirin von Weglenburg
Ayla, du bist nicht das Problem. Das Problem, unser ganzes Problem, das sind die Besucher. Wir kommen aus der Sache nicht raus. Die Besucher sind in der Welt, wir sehen sie. Sie sorgen dafür, dass wir sie sehen. Sie wollen was von uns, sie stellen sich uns in den Weg. Die Bettler in unserer Welt, die stellen sich uns auch in den Weg. Wir können sie ignorieren, klar können wir das, manche von uns können das auch nicht, da ist etwas in ihnen, das zwingt sie einfach hinzusehen. Nur ist das mit den Bettlern einfach. Die brauchen Geld Kleidung Obdach, und ein bisschen Zuwendung. Können wir alles geben. Die Besucher? Wir müssen unbedingt rauskriegen, was die wollen.
Ich muss darüber nachdenken, was du gesagt hast. Ayla. Die Besucher denken, du bist die Lösung. Da ist was, irgendwie ist da was, da können wir ansetzen.
Erst mal will ich erzählen, was oben auf dem Fons passiert ist, und danach, dann reden wir weiter.
Nachricht von Amy Winterhalt
Da muss ich mal dazwischen, das ist der Punkt, das hat mich richtig vom Stuhl gehoben. Ayla hat immer gesagt gekriegt, du, Ayla, du bist das Problem. Dann kamen die Besucher, und die haben gesagt, oder gesagt haben sie es nicht, sie haben es zu verstehen gegeben, Ayla, du bist nicht das Problem, du bist die Lösung.
Das erklärt alles! Was müssen wir noch lang reden? Deshalb ist Ayla rausgegangen! Weil die ihr gesagt haben, du bist für alle unsere Probleme die Lösung, wir brauchen dich, komm mit uns! Ist doch klar, dass das Mädel da mitgegangen ist!
Nachricht von Quirin von Weglenburg
Das ist ziemlich genau das, was wir auch auf dem Fons geredet haben, Regina ist ziemlich genau auf diesen Punkt gekommen.
Ich erzähl das jetzt, sonst kommen wir nie zu Potte.
Und ich erzähl das zuerst, bevor ich von all dem anderen erzähl, was dann noch passiert ist, irgendwie muss ich Struktur reinbringen in die Sache.
Mir ist es ergangen wie Diana. Auf dem ganzen Weg hoch zum Fons hoch hab ich gespäht, ob sich irgendwo auf der Straße Jem rumdrückt. Wir hatten alle keine Ahnung, dass Bertel ihn inzwischen schon gefunden hatte, oder vielmehr umgekehrt, egal, jedenfalls wussten wir nicht, was an diesem Abend noch passieren würde. So oder so, es wär der höhere Zufall gewesen, wenn wir ihm begegnet wären, manchmal passieren solche Dinge. Ich dachte, mit sonderbarer Hellsichtigkeit, wenn er hier ist, dann könnte er sich in Montbel einquartiert haben, auf der rechten Flussseite, irgendwo in einem der alten Häuser hier, die Straßen sind winkelig und kaum zu überschauen, ich will nicht sagen, man könnte ihn da nicht finden, wenn einer sich verstecken will, sucht er genau so einen Ort. Wer weiß, wie lange der schon da ist und uns beobachtet. Vielleicht war er von Anfang an hier. Die Vorfahren von Diana haben sich in der Umgebung versteckt, in einem von den Dörfern südlich von Weldbrüggen, und sind unentdeckt geblieben, das ist hier eine Gegend, wo man in Deckung gehen kann, vor dem Rest der Welt.
So dachte ich vor mich hin, auf dem Weg hoch zum Fons.
Ayla hat sich die ganze Zeit an Diana festgehalten, das hat mir irgendwie ein neues Bild gegeben von der schönen Frau.
Oben auf dem Fons war alles still, wie üblich. Es müssen Besucher im Gebäude gewesen sein, denn auf dem Parkplatz standen Autos. Unauffällige Zivilfahrzeuge, irgendwie so betont unauffällig, dass ich gleich dachte, das sind die Schlapphüte, die sind vor uns gekommen, die warten schon auf uns.
Wir haben geklingelt, wir sind beobachtet worden durch die eingebaute Kamera über der Messingplatte, und dann sind wir eingelassen worden. Der Pförtner in seiner grauen Uniform hat uns persönlich nach oben gebracht, in Reginas Amtszimmer, ich kenn den Mann seit Jahrzehnten, der ist hier oben im Dienst alt geworden. Genau gesagt, der war schon alt, da war ich noch ein Junge, so hab ich das jedenfalls in Erinnerung.
Regina kam uns entgegen, als wir eintraten, und ja, sie hatte schon Besuch, es waren die zwei Schlapphüte, die ich kannte, die zwei Beamten von der Weldbrüggener Inlandsaufklärung, und dann erlebte ich eine Überraschung, und zwar eine gewaltige. Nicht die letzte an diesem Tag.
Der eine von den beiden Beamten, der jüngere, hielt kurz den Atem an, als er Diana sah, und seine Pupillen weiteten sich. Er hatte sich bemerkenswert gut im Griff, er ließ sich nichts anmerken, das Weiten seiner Augen, das konnte er nicht verbergen. Das war nicht die übliche Reaktion, die so viele Leute an sich haben, wenn sie Diana zum ersten Mal sehen, diese Mischung aus Verblüffung und Bewunderung, wer ist das? ein Model? ein Filmstar? – das war etwas ganz anderes. Diesem jungen Kerl erging es genau so, wie es Regina ergangen war vor ein paar Tagen, er hielt Diana im ersten Augenblick für eine von den Besuchern, für eine von diesen schönen todtraurigen Frauen, für eines von diesen Gespenstern. Er sah die Besucher also auch. Das hatte er nicht verraten, als ich das erste Mal mit ihm gesprochen hatte, in meinem Haus, im Beisein Reginas, während Ayla sich irgendwo in den Gärten rumtrieb und wir nicht wussten, wo. Mit keinem Mundzucken hatte er zu erkennen gegeben, dass er wusste, wovon ich redete.
Wie viele von uns gibt es eigentlich?
Nachricht von Ayla Jankowski
Alles gut, ich hab mich gefangen. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Oder doch, ich weiß es. Diana ist da. Das ist das erste Mal in meinem Scheißleben, dass ich mich wirklich und bis auf den Grund ausheulen darf. Hab gar nicht gewusst, was für eine Erlösung das ist. In meiner Scheißfamilie bin ich zusammengebrüllt und geschlagen worden, und für Tränen war da kein Platz. Ich musste putzen und flicken und rausgehen und Geld verdienen für die Jungs, die waren die Paschas, und wenn mir die ältere Schwester, dieses Tier, die Haare ausgerissen hat, gehörte das dazu, ich musste alles runterschlucken, das wurde erwartet, die haben mich misshandelt wie das Vieh, und es war nicht anders. Und der Jankowski hat sich dann erst recht an mir den Hintern abgewischt. Und ich kam in die Klapse, und da wurde ich therapiert. Ich! Nicht meine Familie, nicht der Jankowski, der mir das Blaue vom Himmel herunter versprochen hat, und dann mit meinem Geld abgehauen ist. Ich! Nicht mein Scheißvieh von Vater und nicht meine prügelnde Fotze von Mutter. Die wurden nicht therapiert. Ich. Ich wurde therapiert. Und zum Schluss musste ich noch lügen, jetzt geht’s mir besser, jetzt habe ich alles im Griff. Wenn ich das nicht gesagt hätte, hätten die mich bis heute nicht rausgelassen. Ich hab gelogen. Gar nichts hab ich im Griff. Wie soll ich das im Griff haben? Ich erinnere mich an alles, jeden Tag denk ich an alles, ich schlepp das hinter mir her, als hätt ich immerfort ein Kleid an mit einer langen Schleppe, und auf der Schleppe liegt ein Gebirge, so ist das, und bei jedem Schritt muss ich ziehen und reißen, um überhaupt weiterzukommen, und hör das Geschepper und Gerumpel hinter mir, von den Steinmassen auf meiner Schleppe, wundert es euch, dass ich mich ständig ausziehe?
Und auf einmal war da Diana. Die erste Frau in meinem Leben, die nicht geredet und gefragt hat, nicht wie diese Scheißtherapeutin, die mir erzählt hat, wir müssten reden, ich müsste reden, dann würd alles gut! So eine freche, unverschämte Saulüge. Wieso muss ich reden? Wieso ich? Meine Scheißfamilie müsste reden, die haben alles gemacht, was sie gemacht haben!
Diana hat nicht geredet. Die hat gar nichts gesagt. Die hat mich einfach in die Arme genommen, und ich weiß nicht wieso, auf einmal sind mir da die Schleusen aufgegangen, und ich hab angefangen zu heulen, und konnt nicht aufhören und wollt auch gar nicht aufhören, mir war, als könnt ich endlich endlich alles rauslassen, und das Geschepper und Gerumpel hinter mir hat sich verzogen. Ich hatte nie eine Mutter nie eine Schwester nie eine richtige Freundin. Ich war immer das Stück Dreck. Der Putzlumpen. Ayla, der türkische Wischlappen unter dem Kopftuch. Rolle Klopapier. Und die schöne Jüdin hat mich einfach in die Arme genommen und mir den Kopf gestreichelt. Sie hat nichts gesagt. Diana muss nichts sagen. Wenn man ist wie Diana, muss man nichts sagen. Alles versteht sich von selber.
Deshalb hab ich so geheult.
Und ja, ich hab dieses Problem mit den Besuchern. Und ja, ich hab mich hingestellt. Ich hab mich dem Problem gestellt, mit Haut und Haaren.
Während wir da hoch gefahren sind, auf den Fons, und ich mein Gesicht vergraben hab an Dianas Brust, da ist mir auf einmal klar geworden, wir haben alle dieses Problem mit den Besuchern, ich bin die, die sich dem Problem wirklich gestellt hat. Ich bin nicht das Problem. Ich bin ganz sicher auch nicht die Lösung. Ich bin ganz einfach die, die – – – ich bin die, die sich dem Problem gestellt hat. Es hat mir wie mit Messern geschnitten ins Fleisch. Da passiert was, und ich bin rausgegangen und hab mich der Sache gestellt. Ich hab mich nicht verkrochen. Und wisst ihr was? Wisst ihr, was mir klar geworden ist, während ich da in Dianas Busen reingeschnieft hab und ihr das Kleid nass gemacht hab? Ich hab entdeckt, ich hab einen Anspruch drauf, dass mir geholfen wird. Wir haben alle dieses Problem mit den Besuchern, ich, ich bin rausgegangen und hab meine Haut zu Markte getragen. Ich hab für euch alle das Problem ausgehandelt. Keiner sonst hat die Traute gehabt, sich so hinzustellen. Ist ja recht, ich hab das nicht ganz freiwillig gemacht. Ihr könnt sagen, ich war unter Einfluss. Die Besucher haben irgendwie Macht über mich. Hab ich da nicht Anspruch drauf, dass ihr euch vor mich stellt? Oder, wenn ihr euch das nicht traut, wenigstens hinter mich?
Das ist mir klar geworden, während wir hoch fuhren zum Fons, und während Diana meinen Kopf gestreichelt hat. Zum ersten Mal in meinem Leben hat eine Frau mich gestreichelt, wie eine Mutter ihr Kind streichelt.
Und ich hab gedacht, was immer jetzt kommt, ich stell mich der Sache, ich geh das an. Ich entschuldige mich nicht, ich geb keine Erklärungen ab, ich verlange von euch, dass ihr für mich da seid. Ihr. Für mich. Ich bin nicht euer Sorgenkind. Ich hab mich reingeschmissen in die Sache, stellvertretend. Für euch. Ich hab was zu erzählen, was ich dabei erlebt hab. Und ihr wisst das jetzt, und jetzt ist es an euch, dass ihr euch damit auseinandersetzt.
Nachricht von Quirin von Weglenburg
Unvermeidlicherweise endete die Sache mit einem klaren k.o.-Sieg für Diana. Das ist immer das Ergebnis, und sie merkt das noch nicht einmal. Sie tritt ein in einen Raum, alle Gespräche verstummen, und ich habe schon Leute gesehen, die sie mit offenem Mund anstarrten. Sie starrt dann zurück, wie immer vollkommen humorlos, ohne zu blinzeln, ohne eine Regung von Unsicherheit oder Betroffenheit, und sie starrt so lange, bis der andere den Blick senkt. Das Geheimnis scheint zu sein, sie fühlt gar nichts dabei. Es ist nicht so, dass sie sich darüber ärgerte, angestarrt zu werden, oder dass sie die Situation irgendwie als Herausforderung empfände, sie sieht den Glotzer eher an als ob sie annähme, der will jetzt was sagen, und so guckt sie, abwartend, ihre Augen sind dabei kreisrund und weit offen und schwarz wie Kohle, der Blick vollkommen unbewegt und nicht zu stören, als wäre er aus Panzerglas.
Es ist unglaublich, was für Menschenwesen SIE erschafft.
War auch hier so. Wir traten ein in Reginas elegantes Dienstzimmer, mit all dem polierten Glas und Chrom und den blauen Sesseln und der Couch, Regina hat diese Vorliebe für kühle Farben, sie sitzt zwischen all dem Geglitzer selber wie ein ziseliertes Kunstwerk, mit ihren silbernen Haaren und ihren hellen Kostümen, und die beiden Schlapphüte, die immerhin zu wissen schienen, was sich gehört, standen auf, als Frauen hereinkamen, jawohl, das taten sie. Und Diana war natürlich die größte von uns allen, obwohl sie auf ihren flachen Schlappen lief, und sie hatte einen von ihren lärmenden feuerbunten Röcken an, die immer wehen wie im Sturm, und ihre goldenen Ohrringe klingelten ihr fast bis auf die Schultern runter, und über allem diese Wasserfälle von schwarzen Ringellocken. Alles an ihr schrie, hier bin ich, das ist mein Auftritt, und sie merkte das noch nicht einmal, sie wurde angestarrt, und sie starrte zurück, bis die Sache erledigt war, und dann wartete sie, bis irgendjemand anfing zu reden.
Ich wär so gern wenigstens mal für zwei Minuten in ihrem Kopf, um zu wissen, wie es da drin zugeht.
Regina stellte uns gegenseitig vor, die Schlapphüte und ich, wir kannten uns schon, der jüngere von den beiden konnte nicht aufhören, verstohlen zu Diana hinüberzublicken, er glaubte nur mühsam, dass sie lebendig sei und nicht eine von den Besuchern, ich sah, wie seine Fassade Risse bekam, und hatte fast etwas wie Mitleid mit ihm.
Irgendwie fanden wir alle zu einem Sitzplatz, und Regina, ganz Chefin, nahm das Wort und bedankte sich erst einmal bei uns allen, dass „wir es möglich gemacht“ hätten, zu dieser Sitzung zu erscheinen. Sie benutzte wirklich das Wort „Sitzung“. Und dann sagte sie, wie in ein Diktiergerät hinein, „Gesprächsziel ist die Aufklärung der Vorgänge um das zeitweilige Verschwinden von Ayla Jankowski, hier anwesend“.
Ayla hielt den Kopf überraschend aufrecht.
„Möchte jemand etwas sagen, bevor wir beginnen?“ fragte Regina.
Mir war klar, wir manövrierten durch unklare Gewässer, und ich verstand, warum Regina sich so förmlich verhielt. Allerhand Optionen ratterten durch mein Gehirn, ungefähr so, wie ein Schachspieler die möglichen Züge und ihre Konsequenzen vorrausschaut, ohne sein Zutun, die Schau ergibt sich einfach vor seinem inneren Blick, und dann sah ich mit überwältigender Gewissheit das eine einzige Ziel vor mir, das vorrangige Ziel, dem sich alles andere unterzuordnen hatte: Ich musste Ayla heil hier rausbringen.
Regina hatte die Kompetenz, die Sache hier und heute abzuschließen, das war nur möglich, wenn die Schlapphüte sich zufrieden erklärten. Die Schlapphüte würden ihrerseits ein Gesprächsprotokoll aufzeichnen, und das würde in einer Akte landen, mit Vorgangsnummer und allem Drum und Dran, wir müssen hier heil rauskommen, dachte ich, und dann müssen wir den Ball flach halten, wir dürfen nicht noch einmal auf uns aufmerksam machen, nicht ein einziges Mal, sonst ist Ayla dran.
Und als nächste Vision sah ich vor mir die langen weißen Korridore in der Universitätspsychiatrie, geschlossene Abteilung, und das abendliche Blechtablett mit dem Pillencocktail, und Ayla, benommen und sediert, der nichts anderes übrig bleibt, als die Medikamente zu schlucken, wenn sie jemals die Freiheit wiedersehen will.
Ich sah Ayla an, und sie blickte zurück, merkwürdig herausfordernd, und ich verstand, sie dachte das Gleiche wie ich, mit dem Entschluss, ich stell mich dem, ich komm hier raus, ich hab auch noch was dazu zu sagen.
Unvermeidlicherweise platzte Diana dazwischen, mit ihrer Begabung, im falschen Augenblick das Falsche zu sagen. Sie macht das mit einem so präzisen Timing, dass man ihr Absicht unterstellen möchte, da täte man ihr Unrecht. Sie ist einfach so. Sie verfolgt unbeirrbar ihre eigene Agenda.
„Ja. Ich möchte was sagen“, sagte sie. „Mein Mann ist immer noch verschwunden. Jeremy. Jeremiah Crackston. So heißt er. Der ist weg, und ich will endlich wissen, wo er ist.“
Nachricht von Diana Crackston
Das war nicht falsch, dass ich das gesagt hab. Will ich hier mal klarstellen, damit das nicht untergeht. Jeremy hat Familie. Das ist es, worum es geht. Ihr anderen könnt machen, was ihr wollt, das geht mich nichts an. Jeremy war weg, wegen eurer Geschichte. Ich will euch gern alles glauben, was ihr erzählt, es interessiert mich nicht so besonders. Für mich bleibt es dabei, ich seh eure Leute nicht, die ihr da seht. Mein Kleinster hat mal so geheult, genau wie Ayla, weil sie ihm in der Schule von der Hölle erzählt haben. Die Hölle, das ist der Ort, den sich die Christen eingerichtet haben, dort bringen sie alle unter, die ihnen nicht passen, und bei den Moslems gibt’s auch sowas. Mein Kleinster hat eine Woche bei uns im Bett geschlafen, bei mir und dem Jeremy, bis er sich beruhigt hat, das Licht an seinem Bett musste an bleiben. Ich bin in die Schule und hab der Tussi den Marsch geblasen. Sie hat gesagt, es ging darum, dass die Kinder den Unterschied zwischen Gut und Böse lernen. Ich hab ihr gesagt, die Kinder haben das jetzt gelernt, sie müssen nur dich anschauen, dann wissen sie, von Grund auf böse. Sie hat gesagt, sie wird für mich beten. Das ist bei den Christen die schlimmste Beleidigung, jemandem ins Gesicht zu sagen, ich werd für dich beten.
Die hat nicht gewusst, dass ich Jüdin bin, sonst hätte sie davon angefangen. Die Christen waren sich schon immer ganz sicher, dass wir Juden in ihre Hölle kommen, und die Muslime wissen das sowieso. Die Frage, wer die bösen Menschen sind, hat sich für uns Juden jedenfalls erledigt.
Ich hab selber nach den Gefallenen Engeln gerufen, und es ist immer noch möglich, dass die wegen mir aufgekreuzt sind. Wie soll ich das wissen? QvW hat versucht, mir das auszureden, und das war gut gemeint von ihm, oder was immer er sich dabei gedacht hat. Es bleibt dabei, ich seh die nicht, ich seh eure Leute nicht, und ich halt mich an das, was ich weiß und sehe.
Wenigstens Amy hat ein kleines Kind. Amy, dann sag du mal, worum geht es? Es geht darum, das Kind großzukriegen. Das will täglich versorgt werden. Das will auf den Weg gebracht werden. Ich hab drei Kinder, und die sollen mit ihrem Vater aufwachsen. Die sollen eine Familie haben. Die sollen erwachsen werden und das Leben anpacken. Und ich will das noch erleben. Ich will alt werden und Enkel haben und wenn es klappt, will ich sogar noch meine Urenkel sehen. Ich will neunzig werden, und an meinem neunzigsten Geburtstag soll die ganze Familie auf der Matte stehen, und ich werd im Sessel sitzen, und dann will ich gefeiert werden, und alle werden vor mich hin treten und mir gratulieren und mir danken. Das ist es, was ich will, das ist es, was im Leben zählt. Für die Kinder sorgen, für die Nachkommen sorgen. Dafür sorgen, dass die Welt weitergeht. Ich will die Alte sein, die ehrwürdige Alte, die die Familie zusammengehalten hat.
Und deshalb wollte ich den Jeremy so unbedingt wiederhaben. Der gehört mir. Das gehört mir. Er hat mich geheiratet, er hat mir sein Versprechen gegeben. Zusammen. Wir beide. Für alle Zeit. Das sind seine Kinder, die ich da großziehe. Der kann sich nicht einfach vom Acker machen, weil da gerade diese aufregende Sache mit euren Besuchern passiert. Der hat Verpflichtungen. Der trägt einen Ring am Finger. Der hat sich gebunden, der hat ein Gelöbnis abgelegt. Vor mir, vor den Menschen. Und vor Gott. Und er sagt, er glaubt an Gott. Also. Was gibt es Wichtigeres? Was bitte soll wichtiger sein, als für die Familie zu sorgen?
Und deshalb hab ich das gesagt, da oben im Fons. Das Falsche zur falschen Zeit, wie QvW sagt. Da war nichts falsch dran. Das war nicht das Falsche, was ich gesagt hab. Es war das Richtige, es war das Wichtige. Es war das, worum es geht. Zum Schluss geht es immer darum, dass man jemanden im Leben hat, der einen festhält. Jeremy hat versprochen, fest und bindend versprochen hat der, er hält mich fest, was immer passiert, egal was passiert, er ist da und hält mich fest. Er hat das gesagt, und er hat versprochen, seine Worte sind zuverlässig und wahr. Und ich hab ihm das gleiche Versprechen gegeben, wir beide füreinander, wir halten uns fest, dass wir nicht fallen. Und wenn wir uns festhalten, halten wir auch unsere Kinder, und die werden ihre Kinder halten, so ist das, so ist das im Leben, und es gibt kein anderes Leben.
Wenn wir gegenseitig unsere festen Versprechen nicht mehr halten, ist die Welt am Ende. Da helfen dann auch eure Besucher nicht mehr.
Deswegen hab ich angefangen, von dem Jeremy zu reden, weil es darum geht. Nicht um Jeremy, nicht um mich oder sonstwas, sondern um das Versprechen, das in der Welt ist. Dieses Versprechen, dass wir bei dem bleiben, was wir versprochen haben. Meine Kinder gucken mich an, und ich weiß, die haben Vertrauen zu mir. Wenn ich was sage, das gilt, weil ich meine Versprechen halte. Ich hab ihnen versprochen, der Papa kommt zurück. Und ich hab mir geschworen, ich werd das halten, das Versprechen. Ich werd meinen Kindern nicht in die Augen schauen und sagen, ich hab gelogen, alles zurück, der ist weg und kommt nicht wieder.
Und dabei geht mir eure ganze Geschichte mit euren Besuchern am Arsch vorbei.
Nachricht von Quirin von Weglenburg
Diana, du hast recht, und ich – – – wir wissen alle, was dann am Abend noch passiert ist. Es war nicht falsch, dass du angefangen hast, von Jem zu reden. Ich hätt das nicht schreiben sollen. Ich nehm das zurück.
Tut mir leid.
Jedenfalls hast du das angesprochen, und das war der Augenblick, wo der Ahnungslose von den beiden Schlapphüten, der ältere, hellhörig wurde. Er fing sofort an, eifrig zu schreiben, und dann war seine Frage, und es war fast etwas wie Begeisterung in seiner Stimme: „Es sind demnach schon wiederholt Personen in diesem Umkreis verschwunden?“
Ich: „Von wiederholt kann keine Rede sein.“
Diana: „Ja. Jeremy ist zuerst verschwunden.“
Regina: „Könnten wir das trennen? Das Verschwinden von Jeremiah Crackston scheint eher eine private Sache zu sein. Hat nichts mit Ayla zu tun. Jeremiah Crackston ist nicht wirklich verschwunden. Er schickt regelmäßig Geld an seine Familie, um sie zu unterhalten, und die Beträge sind angemessen. Habe ich das richtig verstanden?“
Diana: „Das stimmt.“
Der ältere Schlapphut: „Er schickt Geld? Größere Summen? Auf welchem Weg?“
Diana: „Über mein – unser Konto. Das Geld geht auf unserem gemeinsamen Konto ein.“
Das war der Punkt, an dem der Schlapphut die Spur verlor. Ein Mann, der seiner Familie regelmäßig Geld schickt, ist nicht wirklich aus der Welt, da ist kein Ansatzpunkt. Diana, das war es, was ich meinte. Ich verstehe, dass du uns die Schuld an dem Verschwinden von Jem gibst. Wir haben ihn nicht dazu gedrängt. Wir wussten überhaupt nichts von seinen Absichten. Er war auf einmal weg, und wir haben das erst von dir erfahren. Nach allem, was wir uns bis zu diesem Zeitpunkt, bis zu dieser Zusammenkunft oben auf dem Fons, zusammengereimt hatten, hatte er sich abgesetzt, um die Aufmerksamkeit der Besucher von dir abzulenken. Und das muss ihm gelungen sein, denn so wie die dich anstarren, haben die ein echtes Problem mit dir. Mindestens sind sie völlig ratlos. Sie wissen nicht, was sie mit dir anfangen sollen. Denk dran, wie der jüngere der beiden Schlapphüte die Fassung verloren hat. Das haben wir nicht vorher mit dem abgesprochen. Der hat genau das gesehen, was auch wir ständig sehen: du siehst aus wie die Frauen von den Besuchern.
Nachricht von Diana Crackston
Danke. Und das hilft mir jetzt wie weiter?
Nachricht von Amy Winterhalt
Diana, sei nicht so bockig. QvW hat recht. Es ist gut, dass du so deutlich gesagt hast, was Sache ist. Wir sind da nicht gegen dich. Wir haben uns die ganze Geschichte nicht ausgedacht. Ayla ist nicht deshalb in den Gärten verlorengegangen, weil sie sich was eingebildet hat. Das geht nicht gegen dich. Wir haben einfach keine Wahl, die Sache hängt über uns, die hing auch über Jemmy, und deshalb war der abgehauen. Der wollte dich schützen, das ist jetzt klar. Nie im Leben hatte der für eine Sekunde die Absicht, dich wirklich zu verlassen, dich und eure Kinder. Ich weiß, du bist nicht die Frau für Geduld. Manchmal erledigen sich die Dinge eben durch’s Warten. Warten und Vertrauen. Versteh mich nicht falsch. Ich will keine großen Töne spucken.
Nachricht von Ayla Jankowski
Ich hab da gesessen wie der Fakir auf seinem Nagelbrett. Obwohl, dem Fakir machen angeblich die Nägel gar nichts aus. Ich hab sie gespürt. Jeden einzelnen, in meinem Hintern. Ich hab mich gehalten.
Es war ganz genauso, wie QvW geschrieben hat. Der jüngere von den beiden Beamten – warum sagt QvW eigentlich immer „Schlapphüte“???? – der jüngere, der hat Diana mit den Augen geradezu verschlungen, ich kenn die Wirkung, die Diana auf Männer hat, ich hätt da was anderes vermutet als QvW, egal, der sieht das mit mehr Abstand, vielleicht hat er recht.
Jedenfalls haben die beiden mich in die Mangel genommen, und ich hab mich an den guten alten Rat gehalten, bleib so weit wie möglich bei der Wahrheit, vor allem erfinde nichts. Lass weg, erfinde nichts. Ich hab alles erzählt, was die sowieso schon wissen, ich hab die Besucher geschildert, wie die sich vor dem Haus versammeln, und wie sie vor mir in die Knie gehen, und dass ich mich wiederholt draußen auf die Straße hingestellt hab, weil die mich einfach sehen wollten.
Ich hab natürlich gelogen, oder vielmehr, nicht so richtig gelogen, ich hab nur was verschwiegen, ein winziges Detail, nämlich dass ich mich nackt hingestellt hab. Die Geheimdienstler haben nicht nachgehakt, QvW hat das nicht angesprochen, Regina nicht. Danke danke danke. Alle sind wir um das Thema herumgeeiert, als gäbe es da eine informelle Übereinkunft, davon reden wir jetzt nicht.
Natürlich haben sie mich gefragt, woher ich das gewusst hätte, dass die Besucher mich sehen wollten. „Haben die was gesagt?“
„Nein, sie reden nicht. Es war offensichtlich. Sobald ich aus dem Haus trat, selbst wenn ich nur zum Einkaufen gegangen bin, haben die mich angeschaut wie hypnotisiert, und wenn ich mich hingestellt hab vor die – – -“
„Wie haben Sie sich hingestellt?“ war die nächste Frage.
Ich: „Einfach so, wie man sich halt hinstellt. Frontal.“
Die: „Und so sind Sie stehengeblieben, einfach so?“
Ich: „Ja, einfach so.“
Die: „Wie lange?“
Ich, patzig: „Bis mir langweilig wurde. Eine halbe Stunde vielleicht.“
Die: „Und die haben die ganze Zeit Sie angeguckt?“
Ich: „Die ganze Zeit. Wie Leute im Kino, die gebannt auf die Leinwand gucken.“
In einem Wort, ich hab gelogen, dass es kracht. Ihr habt gelesen, was ich geschrieben hab, was QvW geschrieben hat, und es war alles ganz anders, ich hab nackt da gestanden, ich stand stundenlang da, die ganze Nacht, und ich hab hell geleuchtet in der Dunkelheit, und das Licht von den Straßenlaternen hat sich verbogen, und QvW und Regina, als die dabei waren, die haben mir hinterher ins Bett geholfen, weil ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte, so sagen die jedenfalls, ich weiß davon nichts mehr.
Die Schlapphüte, jetzt sag ich das auch schon, die Schlapphüte wollten dann wissen, ob ich irgendeine Ahnung hätte, warum „die Besucher“ – jedes Mal, wenn sie „die Besucher“ sagten, sprachen sie die Anführungszeichen mit, ich schwör das, ich wusste gar nicht, dass das geht, die konnten das – sie wollten wissen, warum denn „die Besucher“ mich so unbedingt sehen wollten. Ich sagte, ausnahmsweise wahrheitsgemäß, ich hab keine Ahnung, das war von Anfang an so, die waren schon in meiner alten Wohnung von mir fasziniert, und das hat sich nicht geändert.
Das mit meiner „alten Wohnung“ hatte natürlich endlose Nachfragen im Gefolge. Ja, ich bin alleinstehend. Ja, die Besucher – ich, ich hab keine Anführungsstriche mitgesprochen – die Besucher hatten sich da schon vor meiner Wohnung versammelt. Ja, sie hatten sich auch da schon vor mir verbeugt, waren niedergekniet. Und ich hab das nicht mehr ausgehalten, so allein mit denen, und QvW hat mich geholt.
Die Versuchung war gewaltig, QvW’s Worte zu zitieren, der hat mich einkassiert, ich hab widerstanden. Die beiden haben mich auf eine Weise angeguckt, da lag Dianas Frage in der Luft, ihr habt also Sex miteinander, und dann haben sie das tatsächlich gefragt. Höflich und gewunden, aber eindeutig. Der ältere Schlapphut, der hat das gefragt, ganz knapp und sachlich.
„Besteht da irgendwie eine besondere Beziehung zwischen Herrn von Weglenburg und Ihnen? Die über Freundschaft hinausgeht?“
„Nichts, was über Freundschaft hinausgeht“, sagte QvW.
„Nichts, was über Freundschaft hinausgeht“, sagte ich.
Das Peinliche war, wir platzten damit heraus wie aus einem Munde, im Chor, zweistimmig einstimmig, als hätten wir das vorher geprobt.
Wieso klingt alles, was man gegenüber Polizisten sagt, wie eine Lüge?
Nachricht von Ayla Jankowski
Regina hat sich nichts anmerken lassen. Wenn ich mal alt bin, möcht ich so aussehen wie die, möcht ich so sein wie die, schön und – Herrin des Hauses. Wie macht die das bloß. Sitzt da, und egal was passiert, alles gucken zuerst sie an, was sie sagt, oder ob man sieht, was sie denkt. Selbst Diana hat neben der keine Chance. Bitte, wie macht man das, so zu werden, ich will das auch, bitte bitte.
Also, Regina hat sich nichts anmerken lassen, und Diana hat einfach gewartet, wies jetzt weitergeht, die hat immer ihr eigenes Ding im Blick. Ich natürlich, ich hab verwirrt rüber zu QvW geguckt, und ist der ein bisschen rot geworden? Nur so ein kleines bisschen? Hab ich mir vielleicht nur eingebildet.
Jedenfalls, in dem Augenblick, und aus heiterem Himmel, hab ich dran gedacht, wie der zwei Tage und zwei Nächte in der Gegend herumgeradelt ist, auf der Suche nach mir, und auf einmal hab ich ein solches Mitleid mit ihm gehabt, das kann ich gar nicht sagen, und natürlich hab ich mich schuldig gefühlt dabei, schuldig bis auf die Knochen.
Ayla, hab ich zu mir gesagt, mach sowas nie wieder, nie nie wieder.
Die Schlapphüte kamen jetzt erst so richtig in Fahrt. Das waren alles nur Präliminarien gewesen, jetzt fingen sie an.
Es war der der Jüngere, der das Wort nahm, er hatte unser „Nichts, was über Freundschaft hinausgeht“ tatsächlich mitgeschrieben, ganz sorgfältig, wiewohl sein Smartphone auf dem Tisch lag und alles aufzeichnete, was wir redeten, und jetzt blickte er auf von seinen Notizen und fragte: „Wie kam es zu Ihrem Verschwinden?“ – Und er nannte Ort und Datum dazu.
Ich: „Ich bin mit den Besuchern mitgegangen.“
Schlapphut: „Haben Sie das schon vorher einmal gemacht?“
Ich: „Noch nie. Das war das erste Mal, dass die mich dazu aufforderten.“
Schlapphut: „Sie sagen, die hätten Sie aufgefordert. Wie haben die das gemacht?“
Und jetzt ging es richtig los. Mir blieb nichts anderes übrig, ich schilderte den Tanz, den die vor mir aufführten, und wie sie mich weglockten vom Haus, und die ganze Zeit dabei hatte ich den Gedanken, ich rede hier zu Geheimdienstlern, die haben jedes Wort mitgelesen, das ich auf unserer Seite gepostet habe, die wissen, dass ich splitternackt hinausgelaufen bin in die Nacht, was fragen die mich überhaupt noch, und dann kam mir der Gedanke, die wollen das so genau gar nicht wissen, die wollen für ihre Akten eine bereinigte Version, eine Version, die alles abklärt, damit sie den Vorgang abschließen können, warum wollen die das? Regina? Oder haben sie einfach das Gefühl, sie haben für jetzt genug Arbeit in die Sache investiert?
Jedenfalls, als ich sah, dass die mit ihren Fragen gewisse Klippen entschlossen umschifften, fasste ich Mut und begann, unbefangener draufloszureden. Ihr versteht, die fragten mich kein einziges Mal, was ich eigentlich angehabt hätte. Ist das sonst nicht das erste, was gefragt wird, wenn einer verschwindet? Ich weiß sowas bloß aus dem Fernsehen. Da ist das immer ein Thema, was hat der zuletzt angehabt.
Ich redete also munter über Stock und Stein, wie ich durchs Gelände gestromert sei, ich redete von der Hütte, und die sagten, es gibt dort im Gelände nur eine einzige Hütte von Waldarbeitern, und sie zeigten mir im Handy ein Foto, ich erkannte alles, „da war ich“, sagte ich, und dann zeigte QvW das Foto von der Wiese, wo ich gewesen war, und wieder bestätigte ich alles.
Ich erzählte überhaupt alles, und ließ all das weg, worauf es eigentlich ankam, und hatte dabei das Gefühl, das leuchtende Gefühl, vielleicht ist das immer so bei Verhören, bei Aussagen vor der Polizei, man sagt alles, lässt das eigentlich Entscheidende weg, und alle sind zufrieden, denn darum geht es, dass das Entscheidende weggelassen wird, und nur das dürre Gerüst bleibt übrig. So wie bei einem abgestorbenen Baum, alles ist weg, der Saft ist weg, die Blätter und die Blüten sind weg, alles fort, das dürre Holz steht noch, das ist das Eigentliche, sagt der Polizist.
Ich erzählte dann, wie ich zum Schluss, am zweiten Tag, schwächer und schwächer wurde, und wie ich mich dann aufmachte, nach Hause zu kommen, zu QvW, und wie ich das mit knapper Not auch schaffte, und alles weitere erzählte QvW.
Ich log natürlich. Ich verschwieg, dass ich die letzten hundert Meter getragen worden war, und dass wir alle vermuten, das war Jemmy.
Der ältere Schlapphut sagte endlich, zusammenfassend: „Vor allem muss es uns darum gehen, Fremdverschulden auszuschließen. Ihre Aussage ist, Sie sind von Wesen, die nur Sie und einige andere Personen Ihrer Umgebung sehen können, verlockt worden, hinaus in das offene Gelände zu laufen, Sie sind jedoch nach Ihrem eigenen Bekunden nicht gezwungen worden, und Sie haben sich zwei Nächte und zwei Tage wesentlich unter freiem Himmel aufgehalten, und Sie sind dabei anderen Menschen nicht begegnet und sind auch nach Ihrer Kenntnis nicht beobachtet worden, ist das so richtig?“
Es blieb mir nichts anderes übrig, als laut und deutlich „Ja“ zu sagen. Die Irre hatte ihre Aussage gemacht, die Aussage war ihr vorgelesen worden, sie hatte die Aussage bestätigt. Soweit das eben einen Wert hat, was eine Irre bestätigt.
Ich dachte, warum verschluckt mich nicht der Boden.
Nachricht von Ayla Jankowski
QvW hat mir gesagt, er war das nicht, der das damals geschrieben hat, von wegen, er hätte mich „einkassiert“. Das wär Bertel gewesen. Ich glaube, er hat recht, ich beeil mich, ich berichtige das. Macht das einen Unterschied? Ich brauch wirklich Leute, die auf mich aufpassen.
QvW hat weiter gesagt, ich soll hier nur fertig erzählen, was noch auf dem Fons passiert ist. „Du machst das gut“, das sind seine Worte, jetzt wirklich seine.
Ich sitz nur noch am PC und tipp diese Berichte rein. Hab im Leben noch nicht so viel geschrieben. Mir kommt in den Sinn, ich hab immer zu wenig geschrieben. Müsst alles aufschreiben, was früher war. Mit meiner Scheißfamilie, mit Jankowski, mit der Klapse.
Die richtig schönen Sachen, die schreibt niemand auf. Will sowieso niemand lesen. Glück ist langweilig. Unglück ist aufregend. Unglück. Falsches Wort. Das mit mir und den Besuchern, das ist kein Unglück. Glück ist es erst recht nicht. Obwohl, als ich da auf der Wiese gelegen hab … ich … dieses … das war Glück. Überwältigendes Glück.
Bringt mich zurück zum Fons, denn wir haben darüber geredet. Natürlich haben wir darüber geredet, Diana hat dafür gesorgt. Das kam erst noch. Erst mal hatte ich die Schlapphüte am Hals. Oder vom Hals, wie ihr wollt.
Die Schlapphüte waren endlich zufrieden. Sie hatten erreicht, was sie wollten. Ich hatte mich als die Irre offenbart, die ich bin, und damit blieb die ganze Verantwortung für mich an QvW und an Regina hängen. Dass sie nicht die Polizei benachrichtigten, um die auf die Irre aufmerksam zu machen, hatte einzig mit der Anwesenheit von Regina zu tun, bei diesem Gespräch. Die Chefin war dabei, die Chefin hatte zugehört, das stand im Protokoll, und Regina ist die Chefin, sie hat das Sagen, sobald es um Religion geht. Und das hatte sie geltend gemacht, hier geht es um Religion, und das bedeutet für Regina, mein Ding mein Sagen. Ob sie jetzt zur Polizei geht oder nicht, das ging die Schlapphüte nichts mehr an, sie hatten alles getan, was sie tun mussten. Und die Ergebnisse standen im Protokoll. Da stand jetzt auch drin, Regina Austri weiß alles.
Heißt, wenn mir irgendwas passiert, wenn ich noch einmal einen solchen Ausreißer lande, und es kommt raus, sie hat davon gewusst und hat nichts getan, hat keine psychiatrische Untersuchung der Verrückten veranlasst, dann ist sie dran. Dann ist auch QvW dran, unterlassene Hilfeleistung ist das mindeste, was die ihm anhängen können.
Mir war das alles klar im Augenblick, als die Schlapphüte so plötzlich ihren Kram zusammenräumten, unmittelbar nachdem ich diesen Worten zugestimmt hatte, ich bin da mit Gestalten rausgegangen, die außer mir praktisch niemand sehen kann.
Das stimmt! das stimmt doch! und der jüngere von den Schlapphüten, der hat das ganz genau gewusst!
Sie standen auf, und sie verabschiedeten sich sehr ernst, sehr geschäftsmäßig, keineswegs unfreundlich, nur unpersönlich. Natürlich, sie waren nicht unsere Freunde. Allerdings, als sie Regina zum Abschied die Hand schüttelten, fiel mir auf, dass Regina den älteren der Schlapphüte mit „du“ anredete.
Mir war, als öffnete sich vor mir ein Loch im Erdboden, und aus dem Boden hoch drangen Stimmen, die sagten, Ayla, du dummes dummes Kind, was hast du da angestellt.
In meiner Verzweiflung sagte ich, „ich komme mir vor wie eine Verbrecherin, das ist wohl so, wenn man mit Polizisten zu tun hat.“
Und ich hatte so fest vorgehabt, mich hinzustellen und für mich einzustehen! Hilfe einzufordern, statt mich zu verteidigen!
Regina hatte den Pförtner herbeigerufen, der war gekommen und hatte die Beamten nach unten und draußen begleitet, oder wohin immer sie hatten gehen wollen, und Regina war mit an die Tür ihres Zimmers gegangen, da hatte ich gehört, dass sie zu dem älteren der Beamten „du“ sagte, und dann war sie zurückgekommen und hatte sich gesetzt, gerade in dem Augenblick, als ich von meinem schlechten Gewissen redete, und ich verstand, die Sitzung war noch nicht zu Ende, noch lange nicht.
„Das waren keine Polizisten“, sagte Regina ohne besondere Betonung. „Darum ging es gerade, die Polizei draußen zu halten. Die von den Diensten haben ihre eigenen Regeln. Die haben sogar bei Straftaten einen gewissen Ermessensspielraum, ob sie die Polizei benachrichtigen oder nicht. Darum ist es gegangen. Sie wollten feststellen, ob eine Straftat vorlag, Ayla, bei deinem Verschwinden. Sie haben festgestellt, nein. Sie haben den Vorgang abgeschlossen. Es gibt jetzt diesen Vorgang, und der liegt bei den Akten. Der kann vorgezogen werden.“
Was man am meisten befürchtet, tritt immer ein, hat mal jemand gesagt.
Ich beugte mich vor und starrte auf den Boden, wo sich das Loch geöffnet hatte. Ich wär am liebsten gestorben.
„Ayla“, sagte QvW freundlich, „es macht dir niemand Vorwürfe. Uns allen ist klar, da sind Dinge geschehen, die waren einfach stärker als du. Wir müssen wissen, kannst du dich wehren, willst du dich wehren?“
Und ich sah plötzlich vor mir, was er meinte. Da war diese Möglichkeit, diese wirkliche und ernsthafte Möglichkeit, ich würde eines Tages das Haus verlassen, angezogen, immerhin, und mit diesen Besuchern mitgehen. Und ich würde damit enden, als murmelnde und gestikulierende Pennerin durch die Straßen zu streifen, und wenn mich jemand fragte, würde ich von Gestalten reden, die außer mir niemand sieht. Ich würde in die Psychiatrie gebracht werden, ich würde irgendwann rausgelassen werden. Die ist harmlos, würde es heißen, und das wär die Begründung dafür, dass ich frei draußen rumlaufen dürfte. Ich würde durch Straßen streifen, unsichtbaren Gestalten hinterher. Würde leben von Bettelpfennigen. Da war diese Möglichkeit, dass ich verwahrlost und verfilzt und verdreckt irgendwo unter der Brücke endete, oder in irgendeinem Hausdurchgang. Ich sah das auf einmal. Ich verstand, Regina und QvW sahen das. Ich sah sie an. Sie sahen mich an.
Gibt es kein Glück für mich? Ist das nicht vorgesehen?
Nachricht von Ayla Jankowski
Und natürlich platzte Diana dazwischen. Ich glaube schon, dass sie verstand, was zwischen mir und Regina und QvW vorging. Sie hatte nur ihre eigenen Gedanken, und die wollte sie jetzt loswerden.
Wir saßen zu viert in Reginas Zimmer, die Schlapphüte verschwunden, und ich suchte nach Worten, ich wollte irgendwas Passendes sagen zu QvW‘s Frage, wie das mit meiner Gegenwehr aussähe, ich wollte und wollte und wollte nicht was sagen, was nach Verteidigung und Rechtfertigung ausgesehen hätte. Mir kam in den Sinn, ich müsste jetzt was sagen in der Art von: „Ich bin es, die sich für euch hinstellt. Ihr stellt euch der Sache nicht richtig. Die Besucher sind da, und ihr alle versucht mehr oder weniger, euer Leben weiterzuleben und so zu tun, als wäre nichts. Ich bin es, die da rausgeht, ich trag meine Haut zu Markte. Also helft mir. Ich muss gar nichts für euch tun. Ihr müsst was für mich tun.“
Das war genau das, was ich schon geschrieben hab, und das ging mir jetzt durch den Kopf, dann platzte Diana dazwischen. QvW nennt sie taktlos, sie ist das nicht, jedenfalls nicht aus ihrer Sicht. Sie steuert einfach nur gezielt an, woran sowieso alle denken, und worüber keiner zu sprechen wagt. Das nervt sie. Ich glaub, ihre Kinder haben es toll. Bei ihr gibt es keine Leichen im Schrank, keinen Dreck, der unter den Teppich gekehrt wird, keine ungelösten Probleme unter dem Tisch, sie guckt, sie sieht, sie spricht an.
Nur seltsam, dass sie dabei so lange über sich selber geschwiegen hat. Dass sie Jüdin ist, was mit ihrer Familie war. Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen. Sie hat schon die ganze Zeit an sich selber gesehen, dass das keinen Sinn hat, Sachen unter den Teppich zu kehren, deshalb hat sie bei ihrer Familie darauf gesehen, dass immer alles angesprochen wird, nur bei sich selber hat sie nicht die Kurve gekriegt, wie das manchmal so geht, man hat bei anderen den klaren Blick, und bei sich selber stolpert man, und dann ist Jemmy verschwunden, da hat sie gewusst, jetzt ist Schluss mit lustig, jetzt wird Klartext geredet.
„Punkt ist“, sagte sie, „Ayla war da draußen zwei Tage und zwei Nächte, und sie war nackt dabei. Sie hat sich rumgetrieben, und sie hat munter Sex gehabt, mit sich selber. Soweit alles klar. Ich seh ein, dass wir vor den Bullen nicht unbedingt darüber reden mussten. Da hab ich eine Frage. Ayla. Gehst du vielleicht deshalb nackt raus ins Gelände, weil dich das spitz macht, und weil du dann den Sex deines Lebens hast? Du hast selber geschrieben, du bist noch nie in deinem Leben so gekommen wie da, als du es dir in der Nacht auf der Wiese selber gemacht hast. Also?“
Also. Nennt mir noch einen Menschen in der Welt, der sowas einfach so serviert. Den will ich kennenlernen.
Selbst Regina wurde ein bisschen rot, und mir wurde klar, alle hatten sie über diesen Punkt nachgedacht. Ich hatte darüber nachgedacht. QvW hatte darüber nachgedacht. Wie üblich bei QvW, war er bei seinem Nachdenken auf Dinge gekommen, die – – – sagen wir, die alles ein bisschen anders aussehen lassen.
„Die Dinge liegen so einfach nicht“, sagte er. „Klar hat das alles was mit Sex zu tun. Aber erst in zweiter Linie. Ich hab auch gelesen, was Ayla geschrieben hat, wir alle haben das gelesen, und sie hat alles sehr anschaulich geschildert. Ayla, das will ich mal ausdrücklich sagen, wir sind dir Dank schuldig, dass du alles so offen und rückhaltlos geschrieben hast. Hätte nicht jeder getan, und du hättest manches Detail auch einfach verschweigen können. Hast du nicht getan. Lasst uns jetzt genauso offen reden, wie du geschrieben hast.“
Das war ein guter Anfang, und Regina setzte sich zurecht und sagte: „Ja. Lasst uns reden. Mit allem Respekt. Ayla hat sich uns offenbart. Ayla, wir wollen und werden nichts, was du geschrieben hast, gegen dich ausnutzen. Könnten wir auch gar nicht. Du hast nichts falsch gemacht. Die Dinge sind wie sie sind. Jetzt müssen wir alle versuchen, damit zurechtzukommen. Deshalb müssen wir reden, über alles.“
Ja, endlich. Reden über alles. Ich war den beiden Erwachsenen so dankbar, dass sie über alle Hürden weggingen, als wären die gar nicht da. Ja, bitte. Lasst uns reden, über alles. Endlich mal reden. Über meine Nacktheit. Darüber, dass ich Sex mit mir selber hatte, und dass das großartig war, überwältigend. Lasst uns darüber reden, dass Ayla Sex braucht, und dass es sie erregt, wenn ihr dabei zugeguckt wird, denn so war es, die Besucher hatten mir zugeguckt, die Sterne und die Gräser hatten mir zugeguckt, die Nacht hatte mir zugeguckt, und ich hatte es mir gemacht, und ich hatte mich selbst verlassen dabei. Das ist es, worum es ging. Für Augenblicke, für kostbare unwiederholbare Augenblicke war ich nicht mehr ich selber gewesen. Ich war eins mit der Nacht gewesen, eins mit den Gräsern den Sternen den Besuchern.
Auf einmal war das Eis gebrochen. Ich war so froh, dass jetzt darüber geredet wurde. Man sollte meinen, war peinlich, wie die das ausdiskutierten, dass ich da auf der Wiese gelegen und es mir selber gemacht hatte. War es nicht. Es war wie goldener Mittag. Es wurde einfach darüber geredet, und ich konnte offen sagen, wie wunderbar es gewesen war. Und es war wunderbar gewesen. Niemals in meinem Leben hatte ich eine solche Erfüllung erlebt.
Und QvW, ganz im Ernst, der hatte dazu was zu sagen. Der nahm das ernst, was ich erzählte.
„Respekt“, sagte er mit Blick auf Regina. „Das ist das richtige Wort. Es gibt diese zwei Dinge im Leben eines Menschen, die unbedingt Respekt verdienen, wenn er davon redet, unbedingten und uneingeschränkten Respekt. Das sind seine sexuellen Erfahrungen, und seine religiösen Erfahrungen. Ich sage Erfahrungen, nicht Meinungen. Meinungen über Sex und Religion sind gar nichts. Lehrbücher sind gar nichts. Heilige Bücher sind gar nichts. Worauf es ankommt, ist das, was jeder in seinem Innersten wirklich fühlt und erlebt. Die wirklichen Gefühle und die wirklichen Erlebnisse, auf die kommt es an, und über die kann jeder nur selber Auskunft geben, anders geht das nicht, und wenn dann einer vorbehaltslos redet, und unverstellt, so wie Ayla das getan hat, dann muss man zuhören, und sich danach richten.“
„Ja“, sagte Regina.
Sie sagte das ganz einfach, „ja“, ohne besondere Betonung, und wir sahen QvW an, als sei er unser Orakel. War er auch. Er legte Dinge auf den Tisch, die – – – am besten, ich schreib euch das der Reihe nach auf.
Nachricht von Ayla Jankowski
„Wir müssen davon reden“, sagte QvW, „wie die Ayla dazu gebracht haben, mit ihnen zu kommen. Fortzurennen. Sie ist mitten in der Nacht hinaus in die Wiesen gelaufen, in die Gärten, und wo sie sonst war, auf freiem Feld. Zwei Tage und zwei Nächte. Das macht keiner einfach so. Wir können nicht sagen, Ayla ist da zum Spaß einfach so rausgelaufen. Sie hatte einen Grund, oder mehrere Gründe. Einer von den Gründen könnte jetzt sein, Diana hat das angesprochen, unwiderstehliche sexuelle Erregung. Menschen machen die unglaublichsten Dinge, wenn sie, sagen wir, wenn sie sexuell in einer Ausnahmesituation sind. Halten wir das erst mal fest.“
Er machte eine Kunstpause, es war offensichtlich, dass er auf was ganz Anderes rauswollte.
„Du hast auf der Wiese gelegen“, sagte er zu mir. „Du hast hinauf in den Nachthimmel geschaut. Und dann geschahen außerordentliche Dinge, du fühltest dich hinaufgeworfen werden in die Grenzenlosigkeit, du warst dich auf einmal selber los, du fühltest dich umarmt von einer unbegreiflichen Gegenwart, du schwebtest wie ein Punkt wie ein winziger Punkt in dieser Umarmung, ungefähr so?“
„Niemand kann das beschreiben“, sagte ich, „es war ein Saugen und Sausen in mir, ich hab mich von mir selbst abgelöst, ich spürte ein Drehen, einen Schwindel, und ich jagte nach oben in unbegreiflicher Geschwindigkeit, und um mich herum waren ungeheure Räume aus Licht, und ich war mitten drin, aufgehoben, in den Armen gehalten, ich schwebte, ich hatte keine Angst zu fallen, alles war ortlos, alles war schwarz wie die Sternennacht und gleichzeitig Licht, und da war diese Gegenwart, diese überwältigende Gegenwart, da war jemand, und ich kam fast um vor Liebe, zu diesem Jemand, ich streckte die Arme aus, ich schrie vor Verlangen und Liebe.“
„Und dann fielst du zurück auf die Erde.“
„Ich bin nicht wirklich gefallen, da war ein rauschender Schwindel in meiner Magengrube, ein Drehen und Sausen direkt unterhalb des Rippenbogens, und ich verstand, ich lag noch immer auf der Wiese, ich hatte kein wirkliches Körpergefühl, es war, als hätte mein Körper alle Grenzen verloren, ich hatte noch ungefähr meine Gestalt, die Gestalt war nicht scharf abgegrenzt, es war, als sei meine Haut meine Außenhaut ersetzt durch wirbelnde Wogen und Wellen von weißem Nebel, da war alles in Bewegung.“
„Und dann – dann hast du diese unwiderstehliche sexuelle Erregung in dir gespürt?“
„Ich hab gespürt, dass meine Möpse spitz waren, und ich war übergossen von Schweiß, mein ganzer Leib stand in Flammen, und ich hab meine Schenkel breitgemacht und ich war nass zwischen den Beinen, heiß und nass, und ich hab angefangen mich zu reiben, und dann ist es mir gekommen, ganz schnell, und so stark wie noch nie in meinem Leben, es kam in Wellen, und es war so überwältigend, ich glaube, ich bin für Augenblicke bewusstlos geworden, ich habe niemals sowas erlebt, ich habe nicht gewusst, dass solche Erfüllung möglich ist, solche Ekstase, es war überwältigend.“
(Ich hab das wirklich alles so gesagt. Ich bin ein braves türkisches Mädchen, hätte nie gedacht, dass ich so reden könnte, vor Zuhörern. Hab es gemacht.)
„Ja“, sagte QvW, „genauso hast du es auch erzählt.“
„Okay“, mischte sich Diana ein, „ich will auf keinen Fall sagen, dass ich dir das Ding nicht gönne, du hast einen Orgasmus gehabt wie nicht alle Tage, niemand will dir das wegnehmen.“
„Im Gegenteil“, bemerkte Regina, mit amüsiertem Unterton. „Beneidenswert, könnte man sagen.“
„In der Tat“, fuhr QvW fort, unbeeindruckt. „Mir kommt es auf die Reihenfolge an. Du hast diese Erfahrung überwältigender Entgrenzung gehabt, du hast deinen Körper verlassen, ja? Und dann kamst du zurück in deinen Körper und hast gefunden, der war erfüllt von lodernder Erregung, sexueller Erregung, richtig?“
„Ja“, sagte ich, „so war es. Ich hab sogar gefühlt, und ich hab mir das nicht eingebildet, ich weiß das genau, obwohl es unmöglich ist, ich hab deutlich gefühlt, als ich es mir selber gemacht hab, und als ich gekommen bin, da hab ich meinen Kopf im Schoß von einer von den Frauen liegen gehabt, ich weiß selber, dass die nicht materiell sind, ich hab es gefühlt.“
„Ja“, sagte QvW, „das ist alles ganz genauso, wie du es geschrieben hast. Dieses, sagen wir, dieses spirituelle Erlebnis, diese Erfahrung der Entgrenzung und der Reise hinauf in ein unbegreifliches Licht, das kam zuerst, und das sexuelle Erlebnis, das schloss sich an. Schon als du uns das erzählt hast, hat mich das an was erinnert, ich hab dann ein bisschen gestöbert, vor allem in meinem Gedächtnis, und da musste ich gar nicht lange suchen. Mit der Erfahrung, die du da beschrieben hast, stehst du nicht allein. Das Gespräch, das wir hier führen, ist schon früher geführt worden. Schon vor Jahrhunderten.“
Nachricht von Ayla Jankowski
Ich weiß nicht, saß ich mit offenem Mund, oder klappte ich den Mund zu, ich saß auf jeden Fall und starrte QvW an, ich wollte hören, was der jetzt sagte, das wollte ich unbedingt hören.
„Der Zusammenhang zwischen mystischer und sexueller Erregung ist schon öfter beobachtet worden“, sagte der schöne Mann mit einem gewissen Behagen am Dozieren. „Der Geist hat ein Erlebnis, ein unbegreifliches nie dagewesenes Erlebnis, mit dem der Körper nichts anfangen kann, der Körper spürt nur, da vollzieht sich ein nie dagewesenes Glück, ein Jubel, eine Ekstase von Freude, von Liebe, und also reagiert er mit der höchsten Form von Freude, die der Körper eben kennt – – -“
„Mit sexueller Erregung“, fiel Regina ein, in einem Ton, dem man anhörte, ihr ging ein Licht auf.
„Mit einer unwiderstehlichen sexuellen Erregung“, bestätigte QvW, „die nach Entladung einfach drängt, da gibt es dann kein Halten mehr.“
„Der Geist hat seinen Spaß“, sagte Diana trocken, „und der Körper will auch was davon haben?“
„Ungefähr so“, nickte QvW. „Die geistige, die mystische Erfahrung ist überwältigend, sie ist außerhalb aller Gewohnheiten, außerhalb jeder Täglichkeit, außerhalb all dessen, was sonst bekannt ist. Der Körper muss irgendwie darauf reagieren, irgendwie reagieren auf diesen nie dagewesenen Gefühlstumult, und dann kommt es zu dieser körperlichen Ekstase, nach der geistigen.“
„Das glaub ich nicht“, sagte Diana. „Doch, das glaub ich schon, ich glaub das nicht, wieso hat ausgerechnet die Maus solches Glück?“
Die Maus, das war ich.
QvW und Regina lächelten beide, dann sagte QvW, wieder ernst: „Das mit dem Glück ist eine zweischneidige Sache. Ayla hat die Aktion nur knapp überlebt.“
„Das war es wert“, platzte ich heraus, „das war es tausendmal wert. Das war – das war Geschenk, das war Höhepunkt, mehr kann das Leben gar nicht bringen.“
„Fürcht ich auch“, sagte QvW und sah mich aufmerksam an. „Das ist genau, was mir Sorgen macht. Wenn du die Chance siehst, auch nur eine winzige Chance, dass du das Erlebnis noch einmal haben kannst, dann wirst du alles ganz genau so machen, wie du es gemacht hast?“
Das war nun gar nicht mehr komisch. Regina und Diana sahen mich offen an, und in ihren Blicken lag eine Mischung aus Verdacht und Überraschung und Angst und Besorgnis, alles zusammen. Der schöne Mann hatte mit einem einzigen Wort gerade das angegraben, was ich mir selber nicht eingestehen wollte.
Ich habe dieses Erlebnis einmal gehabt. Wie lange werde ich leben können und darauf verzichten? Wer sowas hatte, der will es wiederhaben. Um jeden Preis. Hatte ich es nicht eben selber gesagt, gerade eben? Hatte ich es nicht gedacht? Das Leben hat nichts Höheres zu bieten, nichts Besseres als das. Ich will das wiederhaben, natürlich will ich das, ich will das nochmal haben und nochmal und nochmal, diese Entgrenzung über alle menschliche Erfahrung hinaus, ich will das haben, koste es was es wolle, und wenn das Leben dabei den Bach runtergeht, ich will sie haben, diese überwältigende Erfüllung.
Das wirbelte mir durch den Kopf, ich dachte es nicht in diesen Worten, die Worte waren da, alle auf einmal, und die drei Erwachsenen müssen mir angesehen haben, was ich dachte, sie blickten mich an, QvW, Regina, Diana, und es entstand ein langes, unbehagliches Schweigen.
Nachricht von Ayla Jankowski
Schließlich gab sich QvW einen Ruck und nestelte in seinem Jackett herum, natürlich trug er Jackett, tut der schöne Mann immer, und er zog aus der Brusttasche sein Smartphone hervor.
„Ich will euch was zeigen“, sagte er.
Er legte das kleine Gerät auf den Tisch, da war ein Bild, erst konnte ich nichts erkennen, schien alles ein wirres Durcheinander aus Gold und Weiß vor einem nachtblauen Hintergrund, Diana hatte den besseren Blick als ich, „das glaub ich nicht“, sagte Diana. Diana saß direkt neben mir, auf der kühlen blauen Sitzcouch, die in Reginas Dienstzimmer steht.
„Bernini“, bemerkte Regina, die das Bild offenbar gleich erkannte.
Ich sah Strahlen, glänzende goldene Strahlen, herabfallend aus einem marmornen Himmel, niederstürzend über zwei steinerne Figuren, das waren zwei Statuen, lodernd in himmlischer Verzückung, da lag eine Frau in flackerndem Gewand, zurückgelehnt, Kopf in den Nacken geworfen, Mund halb geöffnet, Augen geschlossen, die Frau war außer sich, weggetreten, nicht mehr bei sich, von der Rolle, was weiß ich, und das Gewand umrauschte ihren Körper wie im Sturm, was war mit ihren Beinen, hatte sie die geöffnet, konnte man nicht erkennen unter den rauschenden Gewandfalten, doch, hatte sie, klar hatte sie das, ihre Beine ihre Schenkel waren gespreizt, und vor ihr über ihr stand ein Engel, süßes unklares Wesen, konnte ein Junge sein oder ein Mädchen, es hatte Flügel, das Wesen, und es lächelte und schaute an die Liegende, die Seufzende, die Verzückte Entzückte Entrückte Verrückte, und mit der einen Hand griff er nach ihrem Gewand, griff nach dem Gewand über ihrer Brust und hob es ein wenig, und in der anderen Hand hielt der süße gefährliche Engel einen goldenen Pfeil, er hob den Pfeil, als wollte er ausholen damit, und der Pfeil, der spitze scharfe eindringliche Pfeil, der war gerichtet auf den Körper der Liegenden, und es war klar, die wand sich und die seufzte, vielleicht stöhnte sie auch, mit ihrem offenen Mund, und wohin blickten die geschlossenen Augen? und der Pfeil würde gleich eindringen in den Körper, wo? in’s Herz? zwischen die Beine? in den Leib? alles war möglich, man wusste es nicht, nur dass sie Ungeheuerliches miteinander trieben, die beiden entzückten marmornen Figuren, das war offensichtlich, und überhaupt, da musste ich nicht fragen, ich wusste, was die miteinander trieben, ich hatte es erlebt, in dieser Nacht, auf dieser Wiese, als ich in diesen unbegreiflichen Armen gelegen hatte, irgendwo in entferntesten oberen Räumen, und ein vernichtendes ein überwältigendes Glück in mein Herz gedrungen war, während gleichzeitig mein Körper, tief unter mir, liegend auf der Erde der Nacht, seine Finger zwischen meinen Beinen hatte und mich vor ungläubigem nie erlebtem Entzücken schreien machte, ich hatte es erlebt.
Ich starrte es an, das unbegreifliche Bild, wer hatte da von mir gewusst?
„Ja“, sagte QvW bestätigend, als Antwort auf Reginas Bemerkung. „Bernini. Marmor. Die Verzückung der Heiligen Teresa. Marmorskulptur, oder vielmehr Gruppe aus Marmor, steht in einer Kirche in Rom, Santa Maria della Vittoria. Die Heilige Teresa von Ávila war eine spanische Nonne, hat im 16. Jahrhundert gelebt, die Skulptur von Bernini ist um 1650 entstanden, hundert Jahre später. Teresa hatte Visionen, oder nennt das, wie ihr wollt, Verzückungszustände. Das, was Ayla beschrieben hat. Entraffung, Entkörperung, das Gefühl jauchzender Ekstase, unerträglicher Liebe. Hingabe. Auflösung aller Schranken, Auflösung des Körpers. Dieses Hinaufgeworfen-Werden in die Ungeheuernis, in diese unerträgliche Weite da oben, die erfüllt ist von Licht. Sie hat darüber geschrieben. Bernini hat diese Skulptur gemacht.“
„Ich glaub das nicht“, wiederholte Diana. „Sowas kriegt man in der Synagoge jedenfalls nicht zu sehen.“
„Orgasmus in Marmor“, bemerkte Regina trocken.
Ich starrte das Bild an, glaubte es nicht, es wurde nicht anders. Zwei Marmorfiguren. Ein halbnackter Engel, lächelnd, einen goldenen Pfeil in der Hand. Der goldene Pfeil zielte auf eine willenlos hingestreckte Frau, die lag auf ihrem Rücken, und der Gesichtsausdruck der Frau – der war eindeutig. War klar, was die gerade erlebte. Sie hatte den Mund offen. Sie stöhnte. Vor Entzücken.
„Bernini konnte seine Nonne natürlich nicht nackt darstellen“, dozierte QvW. „So hat er sie in ihrem Nonnengewand hingelegt, das Gewand, ihr seht es, ist zerrissen und flattert in alle Richtungen, wie Wolken im Sturm. Was Bernini damit ausdrücken will, ist klar. Die vollständige Auflösung des Körpers, der Körper zerflattert geradezu. Das, was Ayla uns eben geschildert hat.“
Ich starrte die Nonne an. Mir war, als müsse mir das Herz brechen. Schwester, dachte ich, Schwester.
QvW schob auf dem Bildschirm seines Smartphones herum und zeigte uns einige Ausschnittvergrößerungen. Der linke Fuß der Nonne, unter dem Gewand hervorsehend, nackt und herabhängend. Ihre linke Hand ebenfalls herabhängend, ganz schlaff. Die rechte Hand auf dem Handrücken liegend, die Finger nach oben greifend, wie zuckend. „Den rechten Fuß kann man nicht sehen“, sagte QvW, „es ist offensichtlich, sie hält die Schenkel weit gespreizt.“ Ja, sah ich auch. Und dann war da noch eine weitere Vergrößerung, und wir konnten sehen, mindestens eine der Gewandfalten hatte unmissverständlich die Gestalt einer nackten offenen Möse.
„Ich glaub das nicht“, sagte Diana. „Das steht wirklich in einer katholischen Kirche? Kann man hingehen und sich angucken?“
„Santa Maria della Vittoria in Rom“, wiederholte QvW. „Klar kannst du da hingehen und dir das angucken, da strömen jedes Jahr Abertausende von Touristen durch. Die Heilige jedenfalls hat ihre Visionen beschrieben, in ihrer Autobiographie, ‚Libro della Vida‘, und das ist auch gedruckt worden, zuerst 1588, und dann immer wieder, und diese Marmorskulptur gibt wieder, was sie erzählt hat. Was hat sie geschrieben. Sie hat einen Engel gesehen. So nannte sie das Wesen jedenfalls, das sie gesehen hat. Sie lag in tiefer Versenkung, geistiger Versenkung, sie wusste nichts mehr von der Außenwelt, sie war in tiefster Meditation, oder in tiefstem Gebet, wie ihr wollt, und da sah sie diesen Engel. Dass sie das Wesen ‚Engel‘ nannte, mag auch nur eine façon à parler sein, sie musste sich nach den Vorstellungen ihres Ordens richten, sie war Karmelitin, das ist ein katholischer Orden. Oder besser, diese Vorstellungen waren ihr selbstverständlich, sie sah ein übernatürliches Wesen, ein Wesen, von dem sie sofort wusste, das ist nicht von dieser Welt, und sie sagte sich, ein Engel. Oder es ist vielleicht einfach so, wenn wir Menschen einen Engel sehen, wissen wir sofort, das ist einer. Wie auch immer, sie sah dieses Wesen, von dem sie sagte, das war ein Engel, und sie beschreibt das Wesen auch, er sei klein gewesen, und überaus schön, und sein Gesicht sei gewesen wie in Flammen, sie sagt, er müsse einer von den höchsten Engeln gewesen sein, einer von den Cherubim, die ganz aus Feuer bestehen – und dann geschah es. Sie sah – oder fühlte, oder erkannte, wie ihr wollt – sie sah in der Hand des Engels einen langen goldenen Pfeil. An der Spitze des Pfeils glühte Feuer. Da war ein Gefühl, als stieße ihr der Engel den Feuerpfeil mehrmals in ihr Herz, sie fühlte, wie der Pfeil ihr ganzes Innerstes durchdrang, und dann zog der Engel den Pfeil wieder aus ihr heraus, und stieß ihn wieder in sie hinein, und zog ihn wieder heraus, und der Pfeil nahm alles mit, was sie gewesen war, und da war in ihr nichts mehr als unerträgliche lodernde brennende Liebe. Liebe zu Gott. Der Schmerz war furchtbar, sie hörte sich stöhnen. Gleichzeitig war der Schmerz so süß, so unerträglich süß und durchdringend, dass sie sich nur noch wünschte, der Schmerz möge dauern, ewig dauern, niemals mehr aufhören.“
„Und dann“, fuhr QvW fort, „kommt sie auf den Punkt. Wohl sei es ein seelischer Schmerz gewesen, den sie empfangen und empfunden habe – aber, so sagte sie, ihr Körper habe ‚übergenug‘ Anteil gehabt an dem Schmerz. ‚No es dolor corporal sino espiritual, aunque no deja de participar el cuerpo algo, y aun harto‘, so sagt sie, in ihrem feinästeligen Spanisch. ‚Y aun harto‘, das kann heißen, ‚mehr als genug‘ oder sogar, ‚zu viel, viel zu sehr‘. Nochmal: diesen Schmerz, diesen unerträglich süßen, diesen überwältigenden und hinreißenden seelischen Schmerz, von dem sie sich wünschte, er möge ewig dauern, diesen Schmerz, den habe sie ganz genauso auch in ihrem Körper gespürt. Sie redet von einer süßen Liebkosung, die zwischen Gott und der Seele hin und her ginge. Bernini dann hat dieses ‚y aun harto‘ und das ‚amor grande‘ – muss ich nicht übersetzen – genommen, wie es gemeint war, und hat das Gesicht der Heiligen so dargestellt, dass jeder Betrachter versteht, was da passiert, gleich auf den ersten Blick.“
Wir saßen da und starrten das Bild an, und auf einmal legte mir Diana beide Arme um die Schultern und küsste meine Haare und murmelte: „Ach, Ayla, Schätzchen …“
„Ja“, sagte QvW, „das ist es, was ich euch zeigen wollte. Der Bericht der Heiligen, die Darstellung Berninis, alles wie das, was Ayla erzählt hat, nicht wahr? Dieselbe seelische Ergriffenheit, dasselbe Gefühl, aus dem Körper heraus katapultiert zu werden, dieselbe jagende Geworfenheit hinauf in obere Gelände, dasselbe Gefühl einer zerreißenden unerträglichen Liebe, gleißendes Licht, und dann das Erwachen im Körper, der auf die seelische Erfahrung mit leidenschaftlicher sexueller Erregung reagiert.“
Ich starrte das Bild der Heiligen an, und dann fing ich wieder an zu heulen, ernsthaft, ich klammerte mich an Diana und vergrub das Gesicht in ihrer Brust, ich heulte, ich glaube, ich brüllte, und Diana hielt mich, wie eine Mutter ihr Kind hält.
(Der Roman ist erhältlich bei Amazon, auf Papier und als E-Book, die Leseprobe beginnt bei Seite 557 bzw. Position 8327 der E-Book-Ausgabe. Illustration: Bernini, Verzückung der Hl. Teresa. Quelle: wikimedia common, gemeinfrei. Peter Flamm, am 04.08.23, © Verlag Peter Flamm 2023)