Aber eine lange stumme Straße lag hinter Oswald, die waren sie schon vorangeschritten, und die hätte er fliehend entlangtrampeln müssen, ganz allein, schutzlos dem Drohen der Rohre, des stummen Riesengebäudes ausgesetzt, das konnte er nicht, er fühlte es, nein, das würde er nicht können …
Was geschieht, wenn einer nicht vor kann und nicht zurück? Nun, eine Rettung steht immer offen: wohltätiger Nebel kann aufsteigen von ganz unten, von den Knien her, wolkig kann er den Leib umgeben und die Sinne, endlich eindringen in’s Hirn, bis ein plötzliches Tuch hinweggezogen wird, und hinter dem verbirgt sich nichts als Schwärze – und erlösende Ohnmacht ergreift den Gepeinigten.
Und Oswald trottete hinter den anderen her, das Herz schlug ihm vage, flatternd, eine eiserne Faust presste ihm die Brust zusammen, so gern hätte er nachgegeben, sich einfach fallen lassen zu Boden, und die Augen geschlossen, um nichts mehr zu wissen, nichts mehr.
Er versuchte Luft zu schöpfen, aber die Lungen, der Brustkorb wollten nicht gehorchen, ein leises Würgen kam wohl zustande, gerade so, dass er nicht erstickte, das aber war auch alles … er war leichenblass im Gesicht, von jener Blässe, die das Fleisch erscheinen lässt, als sei es aus Wachs geformt, und in seinen Gliedern lag ein Gefühl von Starrheit und Kälte, dass er meinte, er könne sie nicht mehr bewegen – nur die Füße, die gehorchten willig, nicht ihm, keineswegs, nur der vorgegebenen Bewegung, die sie nun einmal angefangen hatten, ein Bein setzte sich vor das andere, es geschah ganz von selbst. Und immer wieder verspürte er einen eisigen Anhauch im Gesicht, als stünde da einer vor ihm, der seinen Atem holte aus dem Frost aller milchigen Angstnächte, und der pustete ihn nun an, mit Häme und Vorbedacht.
In feinen Tropfen stand Oswald der klare, stinkende Schweiß auf der Stirn, er begann zu riechen, nach nassem Stroh zumal, Roger, vor ihm gehend, merkte es nicht, weil der Wind ihnen entgegen kam, vielleicht auch, weil er nichts merken wollte … hatte der denn selber gar keine Angst? Auch Aslan, auch Eramir, wieso gingen die weiter, so ungerührt?
Wenn einer sein volles Leben lebt, und umsichtig und klug und geschickt gewesen ist, allen Gefahren treu begegnete und sie behandelte nach ihrer Not, so hat er gelernt, dass Gefahren eher dazu geschaffen sind, sie zu überleben, als dass man in ihnen untergeht: und da schwindet die Angst, und wächst das Vertrauen.
Das ist der Grund, warum Kinder vor allem Angst haben, und Männer vor fast nichts.
Aber das wusste Oswald nicht, konnte er ja nicht wissen, so fühlte er nur, dass sie stärker waren als er, die drei, die ihm da vorangingen, und er schämte sich seiner Schwäche.
Das hielt ihn aufrecht, nur das.
Und er stolperte weiter, ihnen hinterher, spürte die Kälte in seinen Gliedern, abwechselnd dann ein elektrisches Summen, das zerrte an seinen Hoden, dass erneut eine süßliche Spitze hineinstach in das Gemächte – und er erschrak, und die Kälte packte ihn von Neuem.
Eine Wolke segelte leichthin unter der Sonne hindurch, der Schatten trieb über die Straße, mit sauber abgegrenztem Rand, da hatten sie die Kante des Pfahlbaus erreicht.
Der Weg wandte sich nach rechts, dem Flussufer zu, wie Eramir vorhergesagt hatte; vor ihnen aber lag eine freie Fläche, niedrig gestrüppüberwachsen, das zähe Gestängel einer fiederblättrigen Wolfsmilchart herrschte vor. Dahinter setzte sich, offen dem Blick, das Labyrinth der Röhren und Türme fort, bis sich, in einiger Entfernung, die Kuppeln der silbergleißenden Ballons erhoben.
Mit Furcht blickten die Wanderer, der Schutz des Pfahlbaus, eben noch so bedrohlich, fehlte ihnen nun, offen lag das Gelände vor ihnen, unter hohem Himmel, sonnebeschienen, dass die Türme widerfunkelten; und weit und blau war der Horizont.
Aslan beschattete die Augen und betrachtete die Silberkugeln, mit ihren Stahlleitern, und den kleinen runden Plattformen auf dem Scheitel, und schnell fand er, was er suchte: da stand zwischen den Ballonen ein vereinzelter Ballonsockel, leer, nichts erhob sich auf ihm, doch konnte man selbst von hier aus sehen, dass sein Rand schwarz angekohlt war.
Aslan wies mit der Hand, um seines Begleiter auf seine Beobachtung aufmerksam zu machen, sie schauten, und dann gab Eramir zu, flüsternd: „Ja, das könnte es gewesen sein … eine der Kugeln …“
„Aber wo ist sie jetzt?“ fragte Roger stirnrunzelnd, und gab sich selbst die Antwort: „Fortgeblasen …“
Der Betonsockel sah aus wie abrasiert, ganz sauber, als hätte einer mit ruhiger Hand ein Kinderspielzeug auseinandergenommen, eine hölzerne Kugel etwa, die in einem Holzring ruht … keine Splitter sah man, keine stehengebliebenen Scherben, Metallzacken, nichts, was auf ein gewaltsames Abreißen hätte schließen lassen, und doch musste die Kugel, wenn es denn dort eine gegeben hatte, wenigstens ebenso groß gewesen sein wie ihre fernen Nachbarinnen: so hoch also wie das vierstöckige Gebäude, hinter dem die Besucher nun standen …
Nur der Rand, der Rand des Betonsockels schien rußverschmiert.
Aslan hielt immer noch die Hand beschattend über die Augen und spähte, dann sagte er (leise, auch er): „Schaut genauer hin … die anderen Kugeln …“
Sie mühten sich zu erkennen, was er meinte, und dann fiel ihnen auf, dass der Silberschein der Kugeln auf jenen Teilen der Wölbungen unbestimmt satter erschien, getragener, die dem leeren Sockel zugewandt waren … sie reflektierten weniger, spiegelten nicht so stark im Sonnenlicht, diffuser war ihr Glanz …
„Was ist da los?“ murmelte Eramir, je genauer er hinsah, desto mehr fiel es ihm auf, dort war etwas, die Kugeln blinkten und blitzten in der strahlenden Sonne, wie sie es immer taten, nur auf der Seite, mit der sie sich dem leeren Sockel zuwandten, wirkten sie wie … wie … pelzig …
„Natürlich“, sagte Roger. „Das ist Ruß … der Rauch … oder Hitzedampf …“
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 02.05.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)