Markt

Und die dummen Massen wollten und wollten das einfach nicht sehen. Aufgeklärt und erleuchtet standen die Sehenden am Fenster und sahen hinab auf die schiebenden Massen, die einfach nichts wussten vom Gängelband, an dem sie geführt wurden, einfach nichts wussten und nichts wissen wollten vom Verblendungszusammenhang, blind sein wollten, wohl gar schon angefangen hatten zu lieben ihren Nasenring! Oh, sie verachteten die blinden Massen, die Sehenden, sie fühlten sie sahen sie erkannten sich die geborenen Fürsprecher der Massen, denn sie waren ja Sehende, sie allein wussten, was gut war für die Massen, die Massen wussten nicht, was gut war für sie, man musste es ihnen sagen, man musste es für sie wissen, man hatte es schwer als Sehender, man konnte nur den Kopf schütteln über die störrischen Massen, man musste sie doch geradezu verachten, man hatte Mitleid mit ihnen, man wollte das Gute für sie, aber da sie das Gute einfach nicht annehmen wollten, empfand man auch Erbitterung, Verachtung wohl gar, auf die Länge.

Das ging so während aller Lebzeiten des Jungen.

Egal welche Variante oder Reformulierung des Leuchtertums sie wählten für sich, die Sehenden, eines wussten sie: die sind unmündig, die Massen. Die können gar nicht selbst entscheiden. Die müssen geführt werden. Denn die werden ja schon geführt, von den Heimlichen nämlich, von den Verschwörern, von den Falschen. Von den Finsteren. Es sind aber wir Richtigen, die Führer werden müssen! Dann kommt die Welt ins Rechte.

So hatten sie schon zur Zeit des Hackebeils gedacht, so argumentierten sie zur Zeit der Genickschussanlagen, so freuten sie sich zur Zeit der Gaskammern, so johlten sie von allen Dächern zur Zeit der Abtreibungskliniken.

Während aller langen Lebzeiten des Jungen aber wandelten sich mählich die Dinge. Die Leuchter wandelten sich nicht. Wie auch. Sie waren des Wandels nicht fähig, das einzige, was ihnen einfiel, waren unermüdliche Reformulierungen des Leuchterdenks, sich erschöpfend in öder Wiederholung des Immergleichen. Nein. Was sich wandelte, war die Überzeugungskraft der Leuchterdenke. Die verfiel, verblasste, verlor ihre Plausibilität. Sie stöhnten und schoben, die Leuchter, aber sie vermochten die Massen immer weniger zu bewegen. Die elektronischen Spielzeuge waren ihnen furchtbar im Wege, nicht deshalb, weil dort Wahrheit gesagt worden wäre, weit entfernt, sondern weil dort jeder seine private Wahrheit zu Markte tragen konnte, und weil die Milliarden von Wahrheiten ein festes Geweb bildeten, das sich nicht mehr zentrieren ließ, dem keine Richtung mehr zu weisen war, auf keinen Fluchtpunkt hin, Geweb, das sich gemächlich wandelte in unaufhörlichem Stricken und Weben, das aber keinem Zugriff mehr gehorchte, weil es jedem Zugriff gehorchte. Jeder konnte Nadel und Faden nehmen und mitschneidern am Geweb, oder auch es lassen, wie er wollte. Wo immer eine Meinung geäußert wurde, es erhoben sich alsgleich Gegenmeinungen und ließen sich nicht mehr unterdrücken.

Markt.

Den Leuchtern entglitt die Meinungshoheit, das war das Problem, die Meinungshoheit war doch ihr kostbarster Besitz gewesen, ihr Eigentum! ihr Eigenstes! erbittert haschten sie nach dem kostbaren Stück, das glitt ihnen aus den Händen wie ein schlängelnder Fisch, der Fisch wehrte sich heftig gegen den Zugriff und wand sich, und wie sie ihn dennoch packen wollten, mit viehischer Gewalt, sonderte er zarten Schleim ab, dass er den roh greifenden Händen entflutschte wie ein Stück nasser Seife.

Sie entblödeten sich nicht, hinterherzurennen und immer neu zu haschen nach dem entspringenden Teil, mit immer dem gleichen Ergebnis.

Die Meinungshoheit wurde zu etwas, was definitionsgemäß zwischen den Fingern hindurchschlüpfte, stets im Moment, da die Finger ihres Greifens sich gewiss glaubten.

Und irgendwann, nach den Toden des Jungen, würden die Menschtiere sich endlich einig werden: Wer immer nach Meinungshoheit strebt, der zeigt damit gewisslich, er ist ein Idiot. Ein Depp, der mit den Händen nach der Sonne hascht, und beharrlich glaubt, irgendwann kriegt er sie.

Zu Lebzeiten des Jungen jedoch standen sie noch am Fenster, die Sehenden, und verachteten die Massen und sahen hinunter auf sie. Das zeigt doch, dass wir groß sind? fragten sie sich selber. Wie wir hier stehen und alles überblicken?

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 01.05.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)