„Der Geruch wird immer stärker“, murmelte Roger, und auch Eramir und Aslan zogen prüfend die Luft durch die Nase.
„Wie weit ist es noch?“ fragte Roger.
„Ein gutes Stück“, antwortete Eramir. „Dort unten, an der Ecke des Gebäudes, biegen wir ab, nach rechts, gelangen zum Flussufer, folgen dort einem Trampelpfad bis zur Wohnung des Sammlers Henri.“
„Aha“, sagte Aslan nachdenklich. „Hat er sich dort selbst ein Haus gebaut, wie euer Vater?“
Eramir schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er, „ein Werk Vautrins fand er vor am Flussufer, gut zu bewohnen für ihn und seine Familie, und Raum auch bietend für das, was er sammelt in der Stadt flussaufwärts. Wir …“ er brach ab und weitete erneut prüfend die Nüstern.
Brand.
Da war Brandgeruch in der Luft, der Wind trug einen ganzen Schwall herbei, sengend und scharf, grundiert von einer schweren öligen Beimischung, die, etwas stärker, leicht zum Husten würde reizen können.
Aslan blickte die Straße hinunter, eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. Ihm gefiel das nicht, es war ja zu erwarten gewesen, dass es brandig riechen würde, und doch …
Die vier standen auf der Stra0e, zusammengedrängt, und mit einem Male wurde ihnen bewusst, wie weit und fremd das Gelände um sie herum war, überschattet wurden sie von dem endlosen Pfahlbau mit seinen hohen, offenen Stockwerken, und sie wussten nicht, was darin vor sich ging … da war das Tier, das Tier der Silberstadt, es hatte sich schlafen gelegt, ruhte, aber es konnte wieder erwachen und ausbrechen, wie gestern, mit heißem Faucheatem sie hinwegfegen, dass keine spur mehr blieb von ihnen, so stark war das Tier.
Aslan zuckte die Achseln, eine Bewegung, die sagen sollte, wir habens nun einmal angefangen …
„Gehen wir weiter“, sagte er kurz.
Sie fühlten deutlich, sehr viel deutlicher als vorher, wie ihre Schritte widerhallten, sie tönten über das Röhrenlabyrinth, und kein eiliges Getrappel kleiner Mäusefüße antwortete, sich in Sicherheit zu bringen, kein Flügelschlag –
Das war nicht Stille, das war Erstarrung.
Kein Rauschen des Windes in den Blättern, kein Flüstern und Zischeln der Gräser, des Schilfs, kein Plätschern von Wasser, nicht das helle Gluckern eines Baches, nicht das schwere, fast unhörbare Murmeln eines Stroms. Keine Vogelrufe, kein Pfeifen der Mäuse. Überhaupt nichts.
Doch. Ein dünner, sägender Ton, ganz gelegentlich, das war der Wind, wenn er um die eisernen Pfeiler strich, bei Sturm mochte sich das steigern zu Heulen und Pfeifen –
wenn das doch wäre, fiel Roger ein, ja, wenn doch Wind gerannt käme, dass es heult und knattert in den Sprossen, in den Streben, die Lüfte erfüllt sind von Lärm, und stürzender Regen dazu, dass es dröhnt und trommelt auf dem schweren Metall, herniederstürzt in gischtenden Fahnen, dass man sich anbrüllen muss, um sich verständlich zu machen, den schnappenden Mund geöffnet der Sturzflut, in Fetzen hinweggerissen der Atem, und die Windfaust dröhnend gegen das kreischende Eisen, gurgelnd und blasentreibend die schnellen Bäche auf den Wegen, hinwegspülend roten Rost, und Zittern der Türme unter der breiten Front des Windes …
Stille war, und blauer, leuchtender Himmel. Ein Windhauch kam geschleudert, her durch die Säulenhalle unter dem ersten Stockwerk, er hatte sich unterwegs aufgehalten und mitgenommen seine Fracht, die schenkte er nun den Besuchern –
„Bei Vautrin!“ rief Eramir und hob sein Hemd, um einen Zipfel davon gegen die Nase zu pressen, schwer unter beißend lag unsichtbarer Dampf in der Luft, vermischt mit dem Geruch nach kaltgewordenem Brand, ein Schwall war das, eine Welle, floss gleich wieder vorbei.
„Solange es nicht anhält, mag es ja noch angehen“, murmelte Aslan.
„Das kommt vom Fluss her“, meinte Eramir. „Könnt ihr euch entsinnen, wo“ – er senkte die Stimme zu einem Flüstern – „wo die Feuersäule gestanden hat?“
Aslan zuckte die Achseln und schwenkte den Arm zu einer umfassenden Geste. „Irgendwo“, sagte er, „aber nicht hier … umfangreich muss die Basis der Säule gewesen sein, und ein weites Feld von Brand und Sengung verbreitet haben, hier aber sehen wir keine Spur davon, Bruder Eramir, ein gutes Stück noch entfernt müssen wir sein …“
„Aber der Geruch“, warf Roger ein, auch er mit gedämpfter Stimme, „der ist schon da, wir werden auf den Ort stoßen, denke ich, bald.“
Aslan nickte, mehr zur Bestätigung, dass er Rogers Worte gehört hatte, als aus Einverständnis, dann setzten sie sich wieder in Bewegung, auf der festen, kaum bewachsenen Straße.
Oswald lief mechanisch mit, wie ein Schlafwandler. Es gibt einen Grad von Angst, da tut man willenlos, was einem gesagt oder vorgemacht wird, die Kraft reicht nicht mehr aus, dem Willen zur Flucht nachzugeben –
In einer üblen Lage befand sich Oswald. Er wäre ja gern geflohen, so gern, aber wohin hätte er sich wenden sollen? Er war wie in einen Strudel geraten, der zog ihn zum Kern, zum Trichter, unaufhaltsam, da gab es keine Umkehr, die Männer hatten ihn mitgenommen in die Silberstadt, was hatte ihn bloß getrieben, ihren unausgesprochenen Aufforderungen, ihrer Erwartung des Selbstverständlichen zu folgen? Nun, auch das war Angst gewesen, die Angst, als ein Feigling dazustehen, die Angst, dass Minchen es erfahren erfahren könne und dann wissen werde, dass er nicht ein Mann war wie Eramir – rundum hatten Erwartungen auf ihn eingeblickt, glasige Augen, in denen ein Handeln präformiert war, so unfraglich war es, dass gar nicht darüber zu reden war … was nun aber, wenn er dem Vorgeformten, den Erwartungen nicht entsprochen hätte? Was wäre geschehen? Oh, wie sich die Glasigkeit, wie sich das vorgeformte Wissen, wie sich die Zuversicht gewandelt hätte zu bassem Erstaunen, zu einem Es-gar-nicht-fassen-Können, wie da Hirne vergeblich versucht hätten, die neue Erscheinung einzuverleiben dem Vorgegebenen … und wie Verachtung aufgesprungen wäre, wenn sie entdeckt hätten, dass sie sich eben nicht einverleiben ließe, die neue Erscheinung Oswald, Verachtung und wortlose Spott … alles wäre neu Geworden, alles, und nicht zu seinen Gunsten, wahrhaftig nicht, unten wäre er gewesen im Hause des Uhrmachers, ganz unten.
Jetzt aber hatte sich Angst gewandelt; was da untergründig in seinen Därmen gerumpelt und gekniffen hatte, das war nach oben gestiegen, hatte seine Wangen blass gemacht und den Kopf schwindeln – das war die echte Angst, die gegenstandslose, die die Muskeln anspannt und rennende Flucht befiehlt, Todesangst, die das Leben retten will, das pure Leben, das Pulsen des Blutes in den Adern, die saugende Bewegung der Lungen, das gleichmäßige Klopfen des Herzens, dies alles retten, den kostbarsten Schatz.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)