Führer

Während aller Lebenszeiten des Jungen stand mittig aufgepflanzt in den öffentlichen Geländen diese eine Selbstgewissheit aller Leuchter und ihrer Derivate: Wir sind die Sehenden, und die verblendeten Massen sind die Blinden. Die verblendeten Massen müssen, als Blinde, geführt werden. Wir, als die Sehenden, sind die berufenen Führer der Blinden.

Derweilen taten die Massen, was ihnen richtig schien, und ohne irgendjemanden zu fragen. Es entstand eine ganze publizistische Gattung unter der Spitzmarke: Was wollen die eigentlich? Was machen die da? Was geht da vor?

Sie durchforschten die Massen wie ein Rätsel, das es zu lösen galt. Was denken die sich eigentlich? Warum machen die, was sie machen? Die wollen das eigentlich doch gar nicht. Wer steuert die? Was steuert die? Nenne die unbewussten Beweggründe!

Sie begriffen nicht, diese Sehenden, was der Markt längst wusste, wonach der Markt sich richtete, was dem Markt Geschäftsgrundlage war.

Die Massen machen, was sie machen, weil sie es so wollen. Und was sie wollen, das sieht man, wenn sie es machen.

Fertig. Das ist das ganze Geheimnis. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Konnten die Sehenden niemals akzeptieren. Wir sind Leuchter, wussten die Sehenden, wir durchschauen die geheime Mechanik allen Seins. Mit unserem Licht. Als Taschen als Stiefel als Mützen kennen wir die Gelenke und Pleuelstangen, kennen wir den Antriebsmotor. In- und auswendig. Deshalb sind wir ja die berufenen Führer, das Fahrzeug zu steuern. Wir wissen alle Geheimnisse, wir wissen um alles Warum, und vor allem wissen wir um das Woher und das Wohin.

Tatsächlich, ich sagte das schon wiederholt, waren sie nicht einmal in der Lage, den nächsten Tag vorauszusehen. Sie wussten alles, aber welche Musik die Massen morgen präferieren würden, welche Bücher sie lesen würden, welchen neu gegründeten Parteien sie sich vielleicht zuwenden würden: wussten sie nicht.

Sie hatten nicht einmal die Heraufkunft der elektronischen Spielzeuge vorausgesehen, wiewohl ausgerechnet die Heftchenliteratur schon Jahrzehnte vorher von nichts anderem geredet hatte. Die Autoren der Heftchenliteratur, die hatten die elektronischen Spielzeuge gesehen, in voller Pracht. Die Leuchter nicht. Die hatten, als es dann passierte, danebengestanden und geglotzt. Mit hängenden Armen. Und hatten gar nicht gewusst, was sie damit jetzt anfangen sollten. Die verblendeten Massen hatten ganz genau gewusst, was sie damit anfangen wollten: Kaufen!

Wie ich schon erwähnte, waren die Erstproduzenten selber vom begierigen Interesse der Massen kalt erwischt worden, es dauerte Jahre, bis die Produktion der Nachfrage einigermaßen hinterher kam.

Der Junge dachte oft daran, wie lächerlich das alles war. Wie die Mützen in revolutionären Komitees den Umsturz heißgeredet hatten, während zur gleichen Zeit in Werkstätten jenseits des Ozeans die wirkliche Revolution vorbereitet wurde! Manche der Mützen waren mit der Knarre in der Hand auf die Straße hinausgeschlichen und hatten auf Politiker geschossen. So bereiten wir den Umsturz vor!

Sie hatten nichts verstanden.

Die Seher hatten nichts gesehen, gar nichts.

Das müssen wir ja auch nicht, versicherten sie, auf ihre gewohnte Weise so hochtrabend wie herablassend. Wir müssen doch nicht wissen, welchen Film sich die Massen morgen anschauen werden! Wir kennen die großen Linien! Die Entwicklungen kennen wir! Wohin sich das alles entwickeln wird!

Ist derselbe Unterschied wie zwischen Klima und Wetter, schoben sie später noch nach. Wie das Klima sich wandelt, wie das Klima sein wird, schon in achtzig Jahren, das weiß der Wissenschaftler! Da muss der doch nicht wissen, wie morgen das Wetter sein wird? Ist ja lächerlich!

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)