Zu seiner Kinderzeit zu seiner Jugendzeit war der Druck unglaublich hoch. Die Stiefel die Mützen, sie standen sich gegenüber in unversöhnlichem Antagonismus, aber in dieser einen Sache, in ihrer Verachtung der verblendeten Massen, in ihrer kultischen Verehrung der Großen Toten, in ihrem überlegenen Durchschauen von Reklame und Mache: da waren sie sich wunderbar einig. Sie waren sich wunderbar einig in diesem einen Punkt, dass sie Durchblicker und Durchschauer seien, überlegen dem dumpfen Pöbel, dem Pack, das blind kaufte, was die Reklame ihm vorlegte, die Reklame zumal für die industriell gefertigte Mache, so aus dem Kontinent von jenseits des Meeres kam.
Sie waren sich auch wunderbar einig in diesem weiteren Punkt, dass sie selber die eigentlich berufenen Sachwalter der Massen seien. Die Massen waren ja blind, die brauchten Führer, das versteht sich doch von selbst! An die Hand genommen werden müssen die Blinden, geführt müssen sie werden ins gelobte Land der Sehenden!
Das Land der Sehenden, dessen Emissäre die Durchblicker sind.
Was soll man aber mit den Verblendeten machen, wenn sie nicht glauben wollen an ihre Blindheit? Wenn sie sagen, wir sehen eigentlich recht gut, danke, wir finden schon den Weg?
Die Antwort der durchschauenden Emissäre war auch hier von großer Einigkeit. Da bleiben wir beim Bewährten, sagten sie. Faust in die Schnauze. Abknallen. Standrecht. Auf der Flucht erschießen. Ordnungspolitik. Anordnen. Drüberstehen. Mit eisernem Besen kehren. Ausmisten. Die faulen Äpfel aussortieren. Ausräuchern die Brut. Alles Provokateure! Agenten des Kapitals! Bezahlte Handlanger der Untermenschen! Dazwischenfahren! Gar nicht lang fragen! Beseitigen! Wegräumen! Klar Schiff machen!
Ja, da waren sie sich einig, so Mützen wie Stiefel wie Taschen. Die verblendeten Massen waren nun einmal blind, die wussten nicht, wo es lang ging, das musste man denen vorsagen, und wenn sie nicht nachsagen wollten, wenn sie nicht willig folgen wollten der führenden Hand, dann würden sie schon sehen, was sie davon hätten.
Was sie davon hatten, die blinden Massen, wenn sie sich nicht führen lassen wollten, das waren Panzer auf öffentlichen Plätzen, das war Klingeln der Geheimpolizei um vier Uhr morgens an der Wohnungstür, das waren Sklavenlager, das waren bewaffnete Schwärme der Geheimpolizei, das waren niederrollende Limousinen mit verhängten Fenstern und ohne Nummernschild, das waren Sprechchöre, das war gemeinsame Gymnastik, das waren Treibjagden auf Priester, das war Angst, das war Todesangst, das war Todesmut, das waren Druckerpressen im Untergrund, das waren geflüsterte Worte, das waren heimliche Blicke, das waren Deportationen das waren Standgerichte, das waren Säuberungen und bezahlte Richter, das waren Konzentrationslager, das waren Selbstbezichtigungen, das waren Reihentötungen, das waren Zwangsadoptionen, das waren letzte Briefe vom Transport, das war jauchzendes Spalierstehen am Straßenrand, das waren Schulungsabende, das waren Zwangsabgaben, das waren Anstecknadeln am Revers, das waren unbezahlte Zusatzschichten, das waren achtzehnstündige Reden der Machthaber, das waren Enteignungen und Vertreibungen, das waren Güterzüge mit verschlossenen Türen, das waren Hilferufe hinter den Türen, das war Schweigen hinter den Türen, das waren brausende Sprechchöre, das war Mitmachen Mitmachen Mitmachen, das war heimliches Hören fremdsprachiger Sender, das waren denunzierende Kinder, das waren nächtliche Ausgangssperren, das war betreutes Lesen das war betreutes Denken, das waren versteckte Bücher, das waren vergrabene Bücher, das waren öffentliche Bekenntnisse zu den Führern, das waren öffentliche Hängungen, das waren sprechende Maschinen, das waren Stacheldrahtzäune, das waren Scheinwerfer hinein in gerodetes Niemandsland, das waren Grenzen mit Selbstschussanlagen und Zäunen und Gräben und Wachtürmen, das war, als niemand mehr weg konnte, niemand mehr.
Solches wollten die Mützen die Taschen die Stiefel, solches begehrten sie, im Gedanken an solche Genüsse masturbierten sie.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 25.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)