Brei

„Da wären wir also“, sagte Eramir, und Aslan antwortete nicht, blickte nachdenklich nach vorne, hinein in die Silberstadt.

„Das ist ein Tor, was?“ fragte Roger von hinten.

„Ja“, nickte Eramir dankbar, er war beunruhigt von Aslans Schweigen. „Das ist das Tor, und die Straße führt uns geradewegs zur Wohnung des Sammlers Henri.“

Vor ihnen erhob sich ein kleines gemauertes Gebäude, einstöckig, bis auf die Hinterwand rundum versehen mit großen Fensteröffnungen, in denen starrten noch einzelne Scherben, splittrig; und rechts an diesem Gebäude vorbei führte die Straße, hier stärker bewachsen von Ausläufern der Schilfwiesen und auf der anderen Seite flankiert von einem hohen Pfosten, der war aus gleichen Ziegeln gemauert wie das Häuschen.

Zwischen Pfosten und Häuschen, quer über die Straße, hingen die Reste eines Eisengitters, schwenkbar wohl einmal gewesen, bräunlichgrau verwittert jetzt, zu morscher Unbeweglichkeit, doch hätte ein kräftiger Gegendruck der Hand genügt, es zu zerbrechen.

Nach rechts und links, unübersehbar weit in’s Gelände hinaus, erstreckte sich eine Kette weiterer Pfosten, verbunden durch krümelndes Gegitter.

Und geradeaus, hinter dem Tor, führte die Straße hinein in die Silberstadt, nur eine schmale freie Fläche war zu überqueren, nicht breiter als zwanzig Schritte.

„Es gibt noch andere Tore“, sagte Eramir, „der Sammler Henri erzählt, dass es eines gebe, das sehr viel größer sei als dieses hier, mit ausgedehnten freien Plätzen, doch ist es nicht mehr zu passieren, nasse Wiesen haben sich dort breitgemacht …“

„Dieses hier langt völlig für uns“, sagte Aslan mit leisem Sarkasmus, und Eramir schwieg wieder, bedrückt.

Das nächste Gebäude, an dem die Straße vorbeiführte, hinter dem Zaun, war hoch, vierstöckig, stand auf metallenen Stelzen, vielfach durchwirkt von gebündelten und gewundenen Rohrleitungen, eiserne Leitungen stiegen außen empor, doch schien es im Innern auch offene Treppen zu geben, man konnte das sehen, denn die Stockwerke besaßen keine Außenwände, frei glitt der Wind hinein …

Zum Erschrecken hoch und weitgedehnt war es, und unerforschlich seine Benutzbarkeit, für ein fremdes Geschlecht mochte Vautrin es vorgesehen haben, das dann, entgegen seiner Voraussicht, doch nicht die Erde heimgesucht hatte; dafür könnte man, dachte Roger im Stillen, dankbar sein.

„Nun sage, was wir tun“, begann Eramir endlich, da Aslan hartnäckig schwieg, nur mit prüfendem Blick das Gelände musterte.

„Wir werden absteigen müssen“, antwortete Aslan mit Ruhe, doch sehr bestimmt, als habe er das Ganze schon lange erwogen und vorausbedacht. „Wir lassen den Wagen hier am Tor und gehen zu Fuß weiter, so können wir uns schnell zurückziehen, wenn es nötig werden sollte, ohne durch das Tier und das sperrige Gefährt behindert zu sein. Ihr seid einverstanden?“

Ja, das waren sie, sehr gut ausgedacht hatte sich das Aslan, und wenn sie späterhin den Wagen und die Werkzeuge doch noch benötigen sollten (zu welchem Zweck eigentlich?), so würden sie den Wagen immer noch holen können; zwischen dem Häuschen und dem ersten Pfosten zur Linken war der Zaun niedergelegt, würde dort leicht zu passieren sein.

„Das Tier, kann es allein hier bleiben?“ fragte Roger.

„Oh ja“, antwortete Eramir, „brav ist es, und wird schon still halten für eine gewisse Zeit … allzu lang natürlich nicht, sonst mag es sich zu fürchten beginnen.“

Aslan nickte. „Binden wir es am Häuschen fest“, sagte er, „dort wächst Gras, mit dem kann es sich beschäftigen, bis wir zurück sind. Doch muss es eingeschirrt bleiben.“

Die beiden Männer waren einverstanden.

„Komm jetzt, Oswald, wir wollen los“, rief Eramir nach hinten, es lag ein nachlässiger, fast wegwerfender Ton in seiner Stimme, Roger erlauschte das wohl, es klang, als gäbe es zwischen den beiden eine gewisse Spannung, nun, das mochte nicht ausbleiben, Eramirs Stellung war sicher nicht einfach, mühsam ist es immer, der zweite von oben zu sein.

Aber er hat eine gute Frau, dachte Roger, das müsste doch vieles ausgleichen.

Sie stiegen ab vom Kutschbock, Eramir zuerst, und dann musste er Aslan helfen, der tat zwar so, als wäre das nicht nötig, aber in Wahrheit war er unsicher wie ein Gelähmter, sein Bein schien sich nicht mehr biegen zu lassen, und das Klettern bereitete ihm Schmerzen.

Roger, der die Art seines Schwiegervaters kannte, tat so, als sähe er nichts, und Eramir ahmte ihn taktvoll nach, wenn schon der Sohn nichts sagt, dachte er, ziemt es dem Fremden erst recht zu schweigen, und also griff er Aslan unter die Arme und wendete sich dann wortlos ab, dem Gaul Guillaume zu.

Oswald stieg herunter, ächzend und fehlgreifend, er spürte den brennenden Wunsch zu fragen, ob es denn nicht besser sei, wenn einer bei dem Pferd bliebe, auf es achtzugeben; aber trotz seiner Angst besaß er noch so viel Verstand, die Frage zu unterlassen, die fremden Kaufleute, sicher, an denen war nichts gelegen, die würden morgen oder des nächsten Tages weiterreisen, aber Eramir … der würde seiner Elvira weitererzählen, dass Oswald, der kleine dicke Oswald, der so jung schon verheiratet war, ein Feigling sei, und über ein Kurzes würde es Minchen zu Ohren kommen …

Er fühlte, dass es wieder zu rumpeln und zu kneifen begann in seinen Därmen, und er wurde grün im Gesicht, es zwang ihn fast, sich zu bücken, nur mit Mühe konnte er sich aufrecht halten.

„Ich … ich muss mal austreten“, sagte er schwitzend zu Eramir.

Der zog, leichtes Befremden andeutend, die Augenbrauen hoch und antwortete achselzuckend: „Dann geh doch … was fragst du mich?“

Oswald beeilte sich, hinter das Häuschen mit den großen Fensteröffnungen zu gelangen, wo man ihn nicht sehen konnte, und dort ging er in die Knie, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Ziegelwand und ließ rasch, mit weit gespreizten Beinen, die Hose herunter, und da kam es auch schon, dass er keuchte, es gurgelte und dröhnte und fauchte, tropfte schwarzbraun breiig hinunter in’s Gras, dass ihn Ekel ankam vor sich selbst, und doch war die Erleichterung groß, riesengroß, dass er hätte jauchzen mögen, aber dann sah er aus dem Augenwinkel das Eisengebäude, hochbeinig, und voll waren seine vier Stockwerke mit Streben und Ecken und eisernem Gegitter, dass tausend Augen hätten dahinter hervorspähen können, und er hätte sie nicht bemerkt, und die Schilfwiesen raschelten, von irgendwoher klang das süßmelodische Pfeifen eines Vogels, und durch die wohlige Erleichterung in Oswalds Gedärmen drang wieder der bittere Keil der Angst.

Er rupfte Gras und Blätter vom Boden und wischte, mit vor Ekel verzogenem Mund, er brachte sich kaum wieder sauber, so nass und schmierend war der Abgang gewesen … um die Hausecke herum rief Eramir: „Oswald, wo bleibst du denn? Wir gehen jetzt …“, und Oswald rief zurück, „Ja, gleich!“, immer ruft man: „Ja, gleich“, in solchen Augenblicken, was anderes wäre auch zu sagen , und Schweißperlen standen auf des armen Oswald Stirn, er rupfte und wischte hastiger und hoffte, hoffte brennend, dass die da um die Ecke nichts riechen würden, es stank ja so abscheulich, über allen Glauben …

Als er endlich wieder hervorkam, standen die drei Männer vor dem Tor, neben dem Häuschen, und schauten schweigend die Straße hinunter, in die Silberstadt hinein. Es sah aus, als erwarteten sie jemanden, als sei ihnen gesagt worden, dass da einer kommen solle, den sie nicht verfehlen dürften … den Gaul Guillaume hatten sie angepflockt nahe beim Tor, und zwar so, dass der Wagen noch auf der Straße stand, so stand er günstig für beide Richtungen, zum Wenden wie zum Weiterfahren hinein in die Silberstadt.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)