Chromatisch

Eine Zeit lang mochte er kaum sich mit anderer Musik beschäftigen als mit der aus jener Epoche, bevor der Zug entgleiste. Er konnte stundenlang am Klavier sitzen im Versuch, den chromatisch fortschleichenden Harmonien zu folgen, die die meist empfindsamen und oft ein bisschen hysterisch veranlagten Komponisten der Zeit ausgelegt hatten als Wege ins Fremde hinein, als Wege hinein in verhangene Gleichnisgelände. Für den Jungen waren das die Wege, die er nächtens umschlich, um das Häuschen der Sylphide herum. Er hörte er spielte diese Harmonien, und er dachte dabei an die Sylphide. Er komponierte Klavierstücke, folgend diesen chromatischen Wegen ins Nirgendwo, zu seiner Überraschung entdeckte er, dass das gar nicht so schwierig war, wie es klang, er musste sich ja eigentlich nur von Halbton zu Halbton weiterhangeln. Jeder Ton war deutbar als Leitton zu einer nächsten Tonart, unter Umständen enharmonisch verwechselt, jederzeit auch konnte man springen von einer Mediante in die nächste, und eh man sichs versah, war man einmal rum um den Quintenzirkel. Er bekam Herzklopfen, wenn er die heimlichen Fortschreibungen notierte und fixierte. War ein Gefühl, als solle er Wolken festpflocken an der Abendwiese. Er suchte sich Gedichte aus der nämlichen Zeit zusammen, die auch nicht umstandslos zu finden waren, und setzte sie um in zart dissonante Klänge, die strukturierte Melodik eigentlich eher vermieden. Mit dem Auffinden von Gedichten hatte er insofern Glück, als die Stadtbücherei der kleinen Stadt gerade zur fraglichen Zeit fleißig gesammelt hatte, ihr erinnert euch, der Junge fand dort ganze Schwünge von geisterbeschwörender Literatur, Gespräch mit den Toten, der Blick in die Zukunft, Tischrücken, Geisterfotografie, und was noch, alles treu im Magazin aufbewahrt, der Junge mauserte sich zum Virtuosen des Zettelkatalogs, die Bibliothekarin kam aus dem Keller herauf und versicherte, in der betreffenden Ecke sei schon seit Jahrzehnten niemand mehr gewesen, und jetzt fragte der Junge nach dieser Ecke.

Als er ein alter Mann geworden war, machten die elektronischen Spielzeuge so Dichtung wie Musik dieser chromatischen Epoche in unerhörter Fülle zugänglich, und der Junge hörte und las, las und hörte, und dachte mit einer gewissen Melancholie: Das hätt ich damals haben müssen.

So wie er das auch von der geliebten Heftchenliteratur dachte, vom Kontinent von jenseits des Meeres, alle die Heftchen waren plötzlich nur noch einen elektronischen Klick weit entfernt, überquellend mit melodramatischen und gruseligen und fantastischen und romantischen und zukunftsfabulierenden Geschichten, wuchernde Sprachwelten voll glorioser Verstiegenheiten, in die sich zu verlieren der Junge gern ein ganzes Leben verwendet hätte, so wie ihm die chromatisch fortschleichenden Akkorde ein ganzes Leben wert gewesen wären.

Den kultisch Hörenden waren sie nicht einmal einen Seitenblick wert, und das meine ich wörtlich, die kultisch Hörenden kannten weder die Musik der chromatischen Akkorde noch die Geschichtenwelt der Heftchen, sie kannten sie nicht, sie wussten nichts davon, und versicherten dennoch mit Gewissheit: Das ist nichts.

Wirklich so. Mit dieser Endgültigkeit des Urteils.

Das Urteil des Jungen, über die kultisch Hörenden selber, wurde damit auch endgültig.

Die kultisch Hörenden waren dadurch definiert, dass sie das, was sie nicht kannten und wovon sie vielleicht nicht einmal wussten, verurteilten.

Das ist nichts, sagten sie. Wir wissen ja, was was ist. Unsere Tiefe, das ist was! Alles andere ist nichts, das kann ja gar nichts sein, und also müssen wir es auch gar nicht erst zur Kenntnis nehmen, um zu wissen, dass es nichts ist. Was wir wissen, wissen wir.

Wie soll man mit solchen Menschen reden? dachte der Junge.

Er dachte damals noch, es handle sich um Menschen, in diesem Betracht wurde er schlau erst Jahrzehnte später.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 19.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)