Öl

„Na, erratet ihr’s“, fragte Bernhard, „erratet ihr’s nicht?“ Und der alte Mann hüpfte hinter den Jungen von einem Bein auf’s andere und rieb sich die Hände, ja, das war nun seine Erfindung, und wer sie sah, der musste sich wundern.

„Nein, ich verstehs nicht“, sagte Eluard.

„Du hast sie festgeklebt“, befahl Waldemar.

Der Uhrmacher lachte. „Aber nein“, sagte er, „wenn ich sie festgeklebt hätte, die Walze, dann könnte sie ja nichts mehr anzeigen …“

Das war nun auch wieder wahr, und die Jungen schauten und schauten und konnten die Lösung nicht finden, Bernhard hatte sogar einen Stuhl, damit sie nacheinander hochsteigen und die Sache aus größerer Nähe betrachten könnten, auf den Tisch steigen durften sie nicht, obwohl sie es gern getan hätten, aber der Uhrmacher sagte, das Ding litte keine Erschütterung, und er musste es wissen.

Mit der Zeit bildete sich Eluard ein, dass die Walze sich eben doch bewege; war, seit sie hier standen, der Index nicht ein winziges Stück auf der Skala nach unten gewandert?

„Ja!“ rief Eluard, fast empört, „sie hat sich bewegt, ich hab’s gesehen!“

„Aber wieso geht es so langsam?“ fragte Waldemar zappelig. „Sag’s uns doch, nun sag’s uns doch bitte!“

„Haha“, meinte der Uhrmacher, „soll ich’s euch sagen? Soll ich?“ Und er legte wieder den Zeigefinger gegen die Nase und schaute sehr listig drein. „Soll ich wirklich?“

„Ja!“ riefen sie, „sag’s uns, bitte, bitte!“

„Nun, dann merkt wohl auf. Nicht einfach ist die Sache, und doch, wenn man sie einmal durchschaut hat, dann ist sie so sonnenklar, Wunder nimmt es, dass man’s nicht früher durchschaute, ja, man meint, es könne gar nicht anders sein, und längst schon müsse jemand dies erfunden haben. Und doch“ – hier warf er sich in die Brust – „und doch bin ich der erste, der’s gemacht hat.“

Er wies mit dozierendem Zeigefinger auf die freischwebende Walze und fuhr fort: „Kann man ein Geheimnis nicht sehen an den Dingen, nun, wo wird’s wohl sein? Innen drin. Geht einer auf geradem Wege, wohlgebahnt, und bleibt stehen auf einmal – war kein Hindernis, ist ihm keiner begegnet, kein Tier hat sich gezeigt. Was also hält ihn an? Ist eine Wille in ihm, der ihn bewegt, und der ihn anhält, kann keiner ihm abmerken von außen hin, und ist doch wirksam, als versperrte ein Felsklotz den Weg ihm. Und so ist es auch hier, was ihr von außen nicht seht, das liegt im Innern, wohlgebettet ist es da.

Merkt auf. Hohl ist die Walze, fein gehämmert und geschweißt rundum, ein Rohr also. Was man darinnen sein? Nun, unterteilt ist sie in viele kleine Kammern, oder Fächer, und die Zwischenwände dieser Kammern oder Fächer gehen von der Achse oder Nabe“ – er wies mit andeutendem Finger – „zur Außenwand. Würde man also – immer gut aufgepasst, ihr Lieben – die Walze öffnen an der Seite, so könnte man auch von der Seite in alle Kammern hineinschauen. Sind nun aber diese Fächer vollkommen abgeschlossen gegeneinander? Keineswegs. Jede der Zwischenwände oder Lamellen hat zum Kern der Walze hin – an der Achse also, ihr Lieben –  ein winzig kleines Loch, sich öffnend zur nächsten Kammer: also sind alle Kammern miteinander verbunden. Und was hat nun der Handwerker, der geschickte, getan, als er erfand das Werk? Höchst einfach: Öl hat er hineingefüllt in die Walze, dünnes flüssiges Öl, und zwar so viel, dass eine Kammer, aber nur eine einzige, gefüllt ward von der rinnenden Flüssigkeit. Danach aber hat er die Walze verschlossen und dicht gemacht, dass nichts herauslaufe. Was aber geschieht nun, wenn die Walze gesetzt wird auf das Brett, die schiefe Ebene? Rollen will sie, einfach hinunterrollen, vom eigenen Gewicht getrieben. Aber seht, wie schnell sie innehält: denn eine Kammer ist ja gefüllt mit dem milden Öl, und Öl ist schwer. Rollen aber kann die Walze nur, indem sie sich um sich selbst dreht, um sich aber um sich selbst drehen zu können, müsste sie nun die mit Öl gefüllte Kammer nach hinten hochwuchten – das aber schafft sie nicht, kurz, sie klebt fest, und ich sage euch, sie würde so liegenblieben für alle Tage und Zeiten, die Vautrins Welt steht, wären da nicht … ja, wären da nicht die winzig dünnen Löchlein in den Kammerwänden. Denn seht, ein Eigengewicht hat ja doch die Walze, und also gelingt es ihr ein wenig, ein kleines bisschen, die ölgefüllte Kammer zu heben, im Versuch, sich um sich selbst zu drehen – und da diese Kammer gehoben wird, ein winziges bisschen, was geschieht? Nun, das Öl fließt: in die nächstniedere Kammer. Da das Öl aber abfließt, so wird die gefüllte Kammer leerer, um ein Weniges, und da sie leerer wird, wird sie auch leichter, das versteht ihr doch, nicht wahr? Und da sie leichter wird, gelingt es nun der Walze, die ja, vom Eigengewicht gezogen, hinunterrollen will, gelingt es nun der Walze auch, sage ich, sich ein winziges Stückchen um sich selber zu drehen, nämlich ein winziges Stückchen die leerer gewordene Kammer zu heben – und da die Walze so tut, quillt natürlich wieder ein Weniges von dem Öl in die nächstuntere Kammer – und so, ihr Lieben, geht das fort und fort und fort, und die Walze dreht sich, langsam, gleichmäßig, langsam, langsam, langsam …“

Tief seufzte Eluard, er verstand es, ja wirklich, er verstand es, welch eine Idee, welch einen Einfall hatte der Handwerker gehabt –

„Schön …“ sagte Waldemar, ganz gedehnt und versunken in den Anblick der geheimnisvollen Walze, die da auf ihrer Schräge ruhte und sich bewegte, so langsam, dass man es gar nicht sehen konnte …

„Nun?“ fragte der Uhrmacher gespannt. „Habt ihr’s verstanden?“

„Ja, ja“, riefen sie eifrig, sie hatten es verstanden, er hatte es ja so gut erklärt, und dann platzten sie heraus, sie erklärten sich die ganze Sache noch einmal gegenseitig, es war doch so schön, dies nun zu wissen, und siehst du, hier liegt die Walze, und das Öl, ja, da ist die Kammer, die ist voll Öl, und es rinnt, talwärts, wie alle Flüssigkeiten das tun, aber tropfenweise, denn winzig sind die Löcher in den Kammerwänden, und immer, wenn die Walze sich drehen will, wird sie festgehalten vom Gewicht des Öls, mur ganz langsam lässt sie das los, wenn es eben tröpfchenweise weitergeronnen ist …

Und sie erklärten es sich nochmals und versicherten es sich gegenseitig, als hätten sie Angst, dass sie es sonst vergessen müssten, sie wollten sich das gut einprägen, oh, es war schön, so etwas zu wissen, eine solche Kostbarkeit, und ganz allein ihnen gehörte sie, sie hatten ja versprochen, nichts weiterzuerzählen, und bestimmt, nie, nie, nie würden sie das tun …

Und sie bekamen rote Köpfe vor Eifer.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 18.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)