Kanon

Der Begriff dessen, was „große Musik“ sei und als welche kultisch gehört zu werden hätte, war übrigens höchst eingeschränkt. Auf dem Kontinent des Jungen war zu allen Jahrhunderten unglaublich fleißig musiziert worden, und die Bibliotheksregale barsten geradezu unter der Fülle der Überlieferung. Das meiste dessen, was in alten Zeiten geschrieben worden war, lag zur Zeit des Jungen noch nicht einmal im Druck vor, und theoretisch hätte sich das kultische Hören immer neu an Unerhörtem erfreuen können.

Ich hätte meine Aufgabe bisher schlecht erfüllt, wenn ihr nun etwa denkt, so wäre es auch gewesen.

Nein, so war es nicht, vielmehr war der allgemeine Begriff von „großer Musik“ geradezu lächerlich eingeschränkt. Die wenigen hundert immer gleichen Werke füllten den Horizont der kultisch Hörenden vollständig aus, und wenn irgendwo an einem bleiernen Sonntagnachmittag Platten aufgelegt wurden in einer Angsthöhle, klang das tausendmal schon Gehörte. Und das tausendmal schon Gehörte sollte auch noch genauso klingen, wie man das gewohnt war! Es gab nicht nur die Große Musik, es gab auch die Großen Interpretationen. Die kultisch Hörenden, die eine Kinderflöte nicht zu bedienen verstanden hätten, wussten genau die Richtigkeit einer Interpretation zu beurteilen, und die Pferdeschnauzige gab ihnen Futter.

Die kultisch Hörenden, das werdet ihr verstanden haben, waren das Lesepublikum der Pferdeschnauzigen. Sie saßen kultisch hörend in den Konzerten und schlugen des übernächsten Tages begierig die Zeitung auf, dort von der Rezensentin gesagt zu bekommen, was sie zu denken hätten über das Gehörte.

Oder sie lasen, welche Platten kultisch zu hören sie aufzulegen hätten.

Denn auch die Rezension von Platten war Aufgabe der Pferdeschnauzigen, solcherart die Bedürfnisse der kultisch Hörenden zu bedienen. Die Plattenfirmen belieferten bereitwillig die Zeitungen mit Rezensionsexemplaren, die in das Eigentum nicht etwa der Zeitung, sondern des Rezensenten übergingen, das verstand sich von selbst und war Teil der Einkommensbildung dieser unabhängigen Journalisten. Die Pferdeschnauzige kam auf diese Weise im Laufe der Jahre zu einer gewaltigen Plattensammlung, wie ihr Ressortchef im Laufe der Jahre zu einer gewaltigen Büchersammlung kam. Arbeitsteilung.

Der Junge suchte in den Radiosendern fiebrig nach Musik, die er noch nicht gehört hatte. Studierte die Programmzeitschriften. Er fasste eine große Neigung zu einer Epoche, die von den kultisch Hörenden mit genauer Not noch der Zeit zugerechnet wurde, da man „Große Musik“ geschrieben habe, nämlich der Epoche beginnend ungefähr zwanzig Jahre nach dem Tod des Unnachahmlichen und endend mit dem Ausbruch des ersten großen Völkerschlachtens, im Jahrhundert des Jungen. Länger als zwei Jahrzehnte hatte diese Epoche nicht gewährt, und je dichter ihre Musik zeitlich der Katastrophe nahekam, desto aufregender erschien sie dem Jungen, die Klänge wurden immer gewagter, die Harmonien immer unbestimmter und jenseitsweisender. Die kultisch Hörenden mochten das nicht. Es waren Andere unter den Komponisten, und den kultisch Hörenden war, dass einer ein Anderer gewesen sei, ernsthaft Argument. Sie entdeckten, die Musik dieses Anderen sei nicht wirklich „tief“. Der habe nur vorgegeben, tief zu sein, in Wahrheit habe er die Tiefe nur nachgemacht. Selbst Musik, einfach nur in westlichen oder südlichen Nachbarländern geschrieben, ließen die Richtigen die Tiefen die kultisch Hörenden nicht gelten, auch dies nicht etwa aus nachvollziehbaren oder wenigstens bedenkbaren Gründen, sondern schlicht mit dem Hinweis auf die falsche Herkunft dieser Musik. Musik von der Insel des Unnachahmlichen wurde geradezu mit Verachtung quittiert. Die haben das doch gar nicht gekonnt. Bei denen hat es sowas doch gar nicht gegeben. Wenn bei denen jemals ernsthaft musiziert worden ist, dann sind die Musiker doch von uns gekommen. Die haben doch bloß an unserer Tiefe schmarotzt! Der Junge hörte deutlich anderes. Noch größere Verachtung begegnete nur der Musik, die zur fraglichen Zeit auf dem Kontinent jenseits des Meeres geschrieben worden war. Da wehrten die kultisch Hörenden schon mit beiden Händen ab, es waren die ersten Töne noch nicht erklungen.

Ihr seid sowas von hohl, dachte der Junge.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)