Zeit

Atemlos betrachteten die Jungen die Maschine, seltsam war die, es regte sich, ein Prozess lief ab, verlangsamte Bewegung …

„Aber wie geht das?“ rief Eluard protestierend, er verstand nichts, gar nichts, nicht einmal, warum Bernhard das eine Uhr nannte.

„Ja“, sagte Bernhard behaglich, „das ist nun schwer zu erklären, ihr Lieben, was soll ich sagen … also, stellt es euch so vor: zum Schluss kommt ein rundes Zifferblatt daran, und auf dem bewegen sich Zeiger im Kreis, dass man die Zeit ablesen kann. Das kennt ihr doch?“

Ja, das kannten sie, hatten sie schon gesehen, in den Städten und Dörfern fand man dergleichen, aber normalerweise bewegten sich die Zeiger nicht, waren stehengeblieben, wohl für immer.

„Nun könnte man ja“, fuhr der Uhrmacher dozierend fort, „die Zeiger seitlich an der Walze befestigen, an der hier, die die Schnur mit dem Gewicht trägt, und die Sache abrollen lassen. Aber was würde dann passieren?“ Er fragte das in einem Ton, als ob er tatsächlich mit Spannung auf die Antwort warte, weil sie ihm noch unbekannt sei …

Eluard dachte nach, bis er ganz gequält aussah. „Ja … die Walze … die würde ganz schnell abrollen … und …“

„Genau!“ rief Bernhard mit großem Armschwung. „Sie würde abrollen im Nu, und die Zeiger würden sich ein paar Mal drehen, so geschwind, dass man es gar nicht verfolgen könnte, und das wäre es dann. Was also muss man tun?“

Er legte mit listigem Blick den Zeigefinger gegen die Nase und fuhr fort: „Man muss die Bewegung verlangsamen, das ist es, was man tun muss, jawohl, der Stein, das Gewicht will nach unten fallen, und was man tun muss, ist, ihn dabei aufzuhalten, und die gestaute Kraft sich zunutze machen.“ Er unterbrach sich und schaute sie an, als wolle er sagen: Das hättet ihr nicht gedacht, was? und sprach weiter: „Und alles, was ihr hier seht, diese ganze Maschine“ (großer Armschwung) „dient zu nichts anderem als diesem Zweck: die Bewegung, die Kraft des Steinfalles zu verlangsamen, zu kontrollieren, nutzbar zu machen der zeitweisenden Bewegung eines Zeigers auf einem Zifferblatt.“

Die Jungen sperrten den Mund auf, starrten ihn an wie ein hürenes Wunder und sagten nichts, und der Uhrmacher Bernhard sonnte sich im Glanz ihres Staunens.

„Bewegung …“ wiederholte schließlich Eluard mühsam, ihm schwindelte, wer vermochte auszudenken, was er da gehört hatte? Die Kraft eines fallenden Steins aufzuhalten, sie zuzuführen vorherbestimmtem Tun, häppchenweise? Der lidschlagschnelle Fall verteilt über Stunden und Stunden? Was tat da der Uhrmacher mit Vautrins Schöpfung?

Er sah den alten Mann an mit einer augenblicksweisen Anwandlung von Furcht, wie einen Zauberer, der Geheimes zu verwirklichen wusste, Ungeheures, Lichtfeindliches, aber der Uhrmacher sah so harmlos aus, mit seiner weißen Haarsträhne und dem mädchenhaften Mund und den Fältchen um die Augen – wie viel Raum in der Welt war, so unendlich viel Raum für das Ungewusste! Wo man hinschaute, bildete sich Neuheit, Ungedachtheit, ja, das mochte es sein, die Welt war ein offener Horizont, in den quoll herein die Fülle der neuen Dinge, unaufhörlich und ohne Ende, das war Vautrins Schöpfung …

Klack-klack, machte die Uhr, klack-klack, und Bernhard stand da mit weisend erhobenem Zeigefinger, und vor ihm hockten am Boden die beiden Jungen und schauten ihn an, mit großen, wundersüchtigen Augen.

„Dies aber ist das Geheimnis der Zeit“, sagte der Uhrmacher, „dass man sie messe, und teile ihr Gleiten durch die Bildungen der Wiederkehr. Dies merkt euch wohl: ohne Ende und alldurchdringend ist die Zeit, die fließende, wohlgestaltige, kann keiner fassen ihre Teile, und ist doch ein Stück von ihr in jedem Ding, das Vautrin geschaffen hat. Siehe, keine Stücke gibt es von der Ewigkeit, und willst du sie greifen, so schmilzt es dahin, wie Eis in der Sonne, es taut und vergeht, wo ist’s geblieben? Wie aber dann messen sie, das große Uferlose? Wer vermag zu teilen das Nichtteilhabende? Dies ist das Geheimnis der Kunst: nicht zählen und messen wir die Zeit, sondern betrachten treu sie im Spiegel. Denn ja, recht hört ihr, das große Ungestaltete hat ein Spiegelbild, darin betrachtets sich selbstverliebt, wie ein Mädchen im Wasser, denn ein Weib ist die Zeit, nicht allein will sie sein. Wie geht’s zu? Wo ist da der Spiegel, dass widerscheine das Ortlose, das Ungestalte? Nun seht her: dies alles ist’s.“

Und der Uhrmacher schwang den Arm in umfassender Geste, einbeziehend die Uhren, die Geräte die Werkstatt, die Kinder, und alles, was draußen war: er meinte die Welt.

„Ja: dies alles. Denn seht die Welt, so blickt ihr in das Spiegelbild der Zeit. Ist aber nicht so einfach: denn Spiegel ist die Welt zugleich und Spiegelbild. Wie das? Ich sage es euch, und merkt wohl auf das Geheimnis: war da im Anfang der Spiegel, und nichts als der Spiegel, das war das große Gemenge, das Vautrin gehäuft hat im Beginn, auf das Geheiß des Großen, Fernen, des Name ist Amâmaël …

Ein kalter Schauer überlief die Jungen Ehrfurcht und abergläubische Angst. Wer sprach den Namen aus? Nur einmal hatte Waldemar ihn gehört, so konnte er sich erinnern, von Grand Mère, als sie ihm erzählt hatte, welche Bewandtnis es hatte mit der Welt, und dann nie wieder.

„Ja, das große Gemenge, das war der Spiegel, formlos, ungegliedert, wie ist die leere Oberfläche eines Spiegels, da niemand hineinschaut. Kann aber einer ermessen, wie ein Spiegel ist, da niemand hineinschaut? Nein, sage ich euch, nie noch hat jemand gesehen, wie ein Spiegel ist, da keiner hineinschaut, und kann sich’s niemand denken, niemand vorstellen. Und also war das große Gemenge, das da war im Anfang, zusammengetragen von Vautrins Hand, und war formlos und ungegliedert, dass sich’s niemand denken kann, wies war, kann keiner ermessen.“

Der Uhrmacher hielt einen Moment inne, strich sich mit den gespreizten Fingern der flachen Hand die Haarsträhne aus der Stirn. Dann fuhr er fort:

„Mengte nun aber Vautrin unter das große Gemenge die Zeit, so heißt es, und erschuf also: die Welt. Denn ist ein Stück von der Zeit, der lieblichen, wohlgerundeten, in einem jeden Ding, so hat es Vautrin gefügt, gerade so, wie in jedem Spiegelding ein Stück ist von dem, was da gespiegelt wird: Form nämlich und Abdruck im Licht.

Und ist also die Welt nichts anderes als das Spiegelbild der Zeit, darin sie sich selbst erkennt.

Dies merkt euch und bewahrt es wohl, denn tiefes Weistum liegt darin verborgen.

Ja, ein reiner Spiegel ist die Welt, klar wie das Wasser des Flusses am Morgen, und Spiegelbild zugleich der Zeit, denn erst der Ablauf, das Nacheinander schafft aus dem Gemenge, dem großen Ungestalteten Form und die Fülle der Dinge.

Wenn nun aber Welt ist Spiegel und Spiegelbild zugleich, wer vermags zu unterscheiden? Kann keiner. Ist, als wenn ihr euch selbst betrachtet im Spiegel: schaut nur hinein, ja, wo ist da denn der Spiegel, wo das Abbild? Wer mags greifen, wer deuten?

Uns aber, oh überschwängliches Wunder, hat’s Vautrin gegeben zu schauen, und dies ist das Tiefste: Spiegelbild sind wir der Zeit, der fließenden, wohlgestaltigen, und vermögen‘s doch selbst zu schauen, das Bild, uns sein zu erfreuen, und die Zeit zu lieben in uns. Denn dies ist’s ja, warum Menschen lieben einander und sich nachfolgen auf ihren Wegen und ihre Spuren suchen voll Verlangen: weil in einem jeden ist ein Stück von der Zeit, der sanften, schönleibigen, die suchen wir, so hat’s Vautrin gefügt.

Warum nun aber sage ich euch dies alles, tue euch kund dies schöne Geheimnis? Zum einen, dass ihr es wisset; zum anderen aber, dass ihr versteht besser Beruf und Ziel, das verfolgt der Uhrmacher. Denn wie ist’s nun mit der Zeit, der gemessenen? Wie ist’s nun mit dem Teilen des Ungestalteten?

Nun, mögt‘s euch jetzt selber sagen, nach allem, was ich euch kundgetan: nicht messen wir die Zeit, die große, fließende, wandellose, nein, wir messen, gebt acht wohl, wir messen ihr Spiegelbild.

Ja, das tun wir, nichts anderem dienen all diese schönen Dinge, als zu messen eine gleichmäßige Wiederkehr, und abzuschreiten das Spiegelbild: wir messen die Zeit in ihren Wirkungen. Oh, das ist nun ein großes Wort, und merkts euch gut, denn viel Geheimnis wird es euch noch kundtun, wenn ihr es wohl bewahrt in euren Herzen, denn so ist das ja mit Worten, wenn man sie bettet im Busen an dunklem Ort, und entfernt vom Treiben, so werden sie wachsen und Früchte tragen, und reich beschenkt findet man sich wieder, den einen Tag oder den anderen, und hätt’s doch nicht gedacht: wir zählen und messen die Zeit in ihren Wirkungen.“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 14.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)