Depression

So blieben die Anhänger der Hochkultur darauf verwiesen, ihre Depression zu pflegen. Wie soll ein Menschtier nicht depressiv werden, wenn seine Aussicht auf das Morgen wesentlich in der Erfüllung eines Auftrags besteht, als welcher sagt: du sollst versuchen du musst versuchen, ein Werk ganz neu zu interpretieren, das in den vergangenen zweihundert Jahren schon mehrere Millionen Male interpretiert worden ist? Sagt nichts gegen das Werk, im Gegenteil. Ein Werk, das über die Jahrzehnte millionenfach gespielt und gehört wird, hat wahrscheinlich etwas für sich. Solche Werke gab es in der populären Musik ja auch. Aber zugunsten eines überkommenen Werkes, nein, zugunsten der Überkommenheit von Werken schlechthin und unter der irren Konstruktion eines Entweder-Oder abgeschnitten zu sein von allem lebendigen Weiter und Mach mal voran? Jeden Tag einem Morgen entgegenzusehen, das seinen Sinn in öder Wiederholung des Gestern sieht? Das bedeutet doch, einen Klotz den Berg hochzudrücken, der in der Nacht wieder zu Tal rollt, genau dorthin, wo man zu schieben angehoben hatte. Die stumpfen Klumpen unter den Tiefen taten erhaben und rümpften die Nase über die Massen und trumpften, genau solches Mühen ist unser Proprium, aber die Sensiblen litten wirklich. Die Anhänger der Populärkultur hatten derweilen eine gute Zeit und machten sich gegenseitig auf die neue Musik aufmerksam, die morgen auf den Markt komme.

Leben lässt sich nicht vortäuschen, niemals.

Auch die Pferdeschnauzige legte Platten auf. Sie bekam mit der Zeit eine riesige Sammlung zusammen, an der partizipierte der Junge mit großem Interesse, wenn auch sein Lauschen nicht besonders kultisch war. Er rannte gern im Zimmer auf und ab, beim Zuhören, fuchtelte und gestikulierte, als sei die Klangrede ein langes Argument, das er nachvollziehen oder dem er widersprechen müsse, er schlug den Takt, versuchte den Harmoniefolgen auf der Fährte zu bleiben. Er war fasziniert von der Vielfalt des Überlieferten, wusste aber in allen Fasern, dass das Überlieferte nicht für alle Zeit die Zukunft sein konnte.

Die Kultischen waren da anderer Meinung. Ums Bewahren geht es doch! versicherten sie.

Und für wie lange? fragte der Junge. Sollen jetzt die Großen Werke der Großen Toten noch zweihundert Jahre lang unverändert wiederholt werden? Um nicht zu sagen, wiedergekäut? Oder für die nächsten zweitausend Jahre? Oder in alle Ewigkeit?

Die Welt ist falsch! versicherten die Tiefen. Wir haben sie doch schon, die Großen Werke. Wir haben das doch schon alles! Da brauchen wir uns doch nichts importieren zu lassen!

Gemeint war: Importieren aus dem Land von jenseits des Ozeans, wo sie ja damals schon rübergekommen waren, um dem Hineinschießen in Gesichter ein Ende zu machen. Und jetzt brachten sie auch noch die falsche Musik rüber, die in Wahrheit gar keine Musik war, wo wir, die Richtigen die Tiefen, doch die Musik geradezu erfunden haben, die Musik, das ist ganz Wir, da braucht uns keiner was zu sagen, da macht uns keiner was vor!

Die Welt ist falsch! versicherten die Tiefen.

Gern auch: Die Welt ist doch verrückt!

Und am allerliebsten: Richtig wird die Welt nur, wenn wir zurückkehren zu unserer großen Überlieferung. Das gibt es ja alles gar nicht mehr, das Große, versteht das überhaupt noch einer? Kennt überhaupt noch einer die Namen?

Muss wohl, dachte der Junge, sonst würden ja nicht alle die Platten verkauft.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 13.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)