Bei der Kanone sagte der Uhrmacher zu den Jungen: „Was meint ihr, gehen wir noch einmal zur Werkstatt? Vieles gibt es dort noch zu sehen …“
„Ja, bitte!“ riefen sie mit Begeisterung, und Bernhard nahm Waldemar bei der Hand und wandte sich hinüber zu dem gemauerten Häuschen, das sich an die Werkstätten anschloss und die Schmiede beherbergte; und Eluard trottete hinterdrein.
Er hatte, als er nach dem Kanonenschlag den aufschwärmenden Vögeln nachblickte, etwas Seltsames bemerkt: sein Blick hatte sich zwischen die Baumwipfel gerichtet, nach Süden zu, und siehe, da war etwas Raum gewesen zwischen den Bäumen, zufällig, so dass man hindurchsehen konnte, und in weiter Ferne, über der Ebene, erspähte er blassblau wolkige Gebilde, nein, das waren eben keine Wolken – das mussten Berge sein, blaue Berge, in der Ferne.
Ihm kam nicht der Gedanke, das könnten dieselben Berge sein, die man vom Turmzimmer des Tischlers Bertram aus erspähte und nach denen die kleine Lili sich so gesehnt hatte – zu weit fort war nun Dietrichs Haus, und die Berge, die man von dort aus gesehen hatte, nun, das waren eben die Berge von Dietrichs Haus gewesen, und diese hier waren die Berge von Bernhards Haus, so war das, aber eine unbestimmte Unruhe oder Traurigkeit meldete sich doch in ihm, er blieb stehen und schaute durch die Lichtung zwischen den Bäumen, fern dort hinten, die blauen Schleier …
„Was hast du, mein Kleiner?“ fragte der Uhrmacher, der gemerkt hatte, dass Eluard nicht mehr folgte.
„Sind das Berge dort hinten?“ fragte Eluard.
„Ja“, erwiderte Bernhard kurz.
„Warst du schon einmal dort?“
„Nun … jaja, ich kenne diese Gegend …“ Einem Erwachsenen wäre aufgefallen, dass Bernhard das Thema nicht behagte, er antwortete ausweichend, mit abwehrendem Blick, er wollte nicht über sie sprechen, die Berge, seltsam … was konnte er gegen sie haben? Nichts Unschuldigeres gibt es als Berge.
Aber mindestens Waldemar bemerkte nichts, wenn auch Eluard etwas verwirrt schaute, und er zog den Uhrmacher an der Hand, um ihn an’s Weitergehen zu erinnern.
„Ja“, sagte Bernhard willig, allzu willig, „gehen wir, gehen wir zur Werkstatt, dass ich euch vieles noch zeige …“
Das gemauerte Häuschen, die Schmiede, war kreisrund und bot einen größeren Innenraum, als es von außen den Anschein hatte; dem Garten zugewandt war ein wenig vorspringender, doch breitflächiger Vorbau, der den Rahmen bildete für zwei massige Flügeltüren, die standen einladend offen, und innen sah man den Amboss, den Ofen, den Blasebalg. An Schnüren und Balken von der Decke herab hing Werkzeug bereit, Hämmer, Feilen, Zangen jeder Art und jeder Größe, und wie in der Werkstatt waren die Wände durch Regale verstellt.
Übrigens kletterte an der Außenwand wilder Wein, einen dichten, breitblättrigen Pelz bildend; am Ende warmer Sommer mochten hier sogar genussfähige Trauben reifen.
Bernhard trat ein in die Schmiede, und mit Neugier folgten ihm die Jungen, ganz anders roch es hier als in der Werkstatt, vorherrschend war der Geruch nach Feilspänen, ein metallischer Duft, den man im Mund schmeckte, so dass man gezwungen war, prüfend mit der Zunge nachzufühlen, mit verinnerlichtem Blick …
Von einem Tisch neben der Tür her drang ein wunderliches Geräusch, langsam und beharrlich, klack-klack, machte es, klack-klack, und eine Bewegung musste dabei statthaben, ein sanftes mechanisches Hin- und Herschwingen, mit geregeltem Widerstand, der ebenso geregelt überwunden wurde.
„Ja, meine Lieben“, sagte Bernhard mit Stolz, „dies ist also eine Turmuhr.“
Ja, das war eine, auf dem Tisch stand sie, das Ungetüm, und besaß eine Grundfläche groß wie eine Zimmertür, und war bestimmt ebenso hoch wie Waldemar oder Eluard, und die waren doch beide schon recht groß.
Sie sperrten Mund und Augen auf und traten näher, das war gar nicht zu verstehen, was sie da sahen: zunächst ein schwarzeiserner, kastenförmiger Rahmen von den genannten Maßen, aber was darin war, umfasst und getragen von diesem Rahmen, das war verwirrend, wer mochte es begreifen?
Gezähnte Räder, das war das erste, was auffiel, gezähnte Räder in allen möglichen Größen, ineinandergreifend, einige trugen die Zähne am Innenrand, andere wendeten sie nach außen, vielfach auch griffen sie ineinander, mit Hilfe von Übertragungen zumeist, das waren walzenförmige Gebilde von sehr unterschiedlicher Dicke, deren Körper aus in gleichmäßigen Abständen rund angeordneten Eisenstäben, Gittern also, bestanden, und diese Eisenstäbe passten genau hinein in die Zwischenräume der Radzähne …
Gestänge auch war gefügt zwischen die Räder und Walzen, mannigfach durch bewegliche Gelenke und Scharniere zu vorherbestimmtem und erwünschtem Tun tauglich gemacht und verbunden durch wunderliche Federn und greifende und rastende Eisenfinger und -nadeln und -stichel mit den Rundteilen …
Beileibe aber bestand das Gestänge nicht nur aus einfachen und geraden Stücken, nein, vielfach Gebogenes herrschte geradezu vor: Winkel und Kurven und Schraubungen und abstehend keilförmige Greifer machten sich bemerkbar …
Und bei genauerem Hinsehen verstand man, dass wohl alle Teile der Maschine auf irgendeine Weise miteinander verbunden waren, zu ausgeklügeltem Zusammenwirken (eines der Räder, feiner gefertigt als die übrigen, aus einem zum Kreis gezwungenen Eisenband nämlich, wies gar nach der Seite beißende, geschrägte oder gewinkelte Zähnung auf, bemerkt Eluard).
Und, auf verschiedene Stellen des Gebildes verteilt, lagerten breit drei dicke hölzerne Walzen, um die war, sorgfältig Reihe neben Reihe gelegt, helle Schnur gewickelt, die Enden hingen verschieden weit herab zu Boden und waren durch eingeknotete Steine beschwert – der Tisch also, auf dem die Maschine stand, war kein Tisch, sondern ein kräftiger Bock mit Querbalken.
Bewegte sich etwas? Es musste doch, denn gleichmäßig ertönte es: klack-klack, klack-klack …
„Da ist es!“ rief Waldemar aufgeregt und wies mit dem Finger, ja, da war es, ein kleiner metallener Balken, nicht aus Eisen, mit auszahnenden Verdickungen an beiden Ende und waageartig aufgehängt, der kippte gelassen, in vorüberdrehende Zähne eingreifend, von Seite zu Seite, und immer machte er dabei: klack-klack, klack-klack …
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 12.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)