Als der Junge noch war, was er Zeit seiner Leben bleiben sollte, nämlich ein Junge, hatten die Tiefen die absolute Deutungshoheit, was „Kultur“ anbelangte. Sie legten fest, was „Kultur“ sei, und worüber vernünftigerweise geredet werden konnte und geredet werden durfte, wenn von Kultur die Rede war.
Wer ihnen auf den Leim ging, hatte gute Chancen, sich eine chronische Depression einzufangen, die je nach persönlicher Disposition mild sein konnte, oder auch nicht so. Die Anhänger der Populärkultur waren gewöhnlich aufgekratzt und aufgeregt und freuten sich auf den morgenden Tag, der wieder neue Musik neue Bücher bringen würde. Das war aufregend! Man kaufte Zeitschriften in hohen Auflagen, die vom Neuen berichteten. Man freute sich auf neue Filme. Neue Gesichter. Man hörte nicht so viel die Musik von gestern, man hörte die von heute, und freute sich auf die von morgen, oft ganz kindlich, wie sich die Kinder auf Geschenke freuen. Nächste Woche kommt ein neues Album raus von dem Sänger, wegen dem die Fans schon in den frühen Morgenstunden oder vielleicht sogar die ganze Nacht auf dem Bürgersteig vor dem Plattenladen kampieren!
Die Anhänger der Hochkultur waren gewohnheitsmäßig deprimiert, und das oft ganz ernsthaft, nicht nur als Attitüde. Mindestens den Sensibleren unter ihnen musste ja auffallen, dass draußen das Leben an ihnen vorbeilief, und zwar ohne sich um ihre Hochnäsigkeit im Geringsten zu kümmern. Sie waren bereits aufgezogen worden im Bewusstsein: Große Kultur ist etwas, was in der Vergangenheit produziert worden ist, von den Großen Toten, und was es heute nicht mehr gibt. Wir heute sind nur Bewahrer, Bewahrer des Großen Erbes. Wir sind dazu da, die Großen Werke der Großen Toten zu wiederholen, ohne dass ein Ende absehbar ist. Wir sind dazu da, die Werke der Großen Toten zu wiederholen bis in alle Ewigkeit, bis zum Ende der Welt, denn die Großen Werke der Großen Torten sind ein für alle Mal die gültigen Werke.
Wenn Kinder, die im Milieu solcher Denke aufwuchsen, als musikalisch begabt sich erwiesen und zu musizieren begehrten, wurden sie zu ehrfürchtiger, wurden sie zu kultischer Bewunderung der überkommenen Werke erzogen. Musizieren bestand dann in dem dienenden Wiedergeben des Großen Überkommenen. Die Großen Werke hatten Gegenstand zu sein nimmermüder interpretatorischer Bemühung. Die angehenden Musiker, Instrumentalisten wie Sänger, wurden in der Perspektive erzogen, sie würden nach zuweilen zwei Jahrzehnte währender mühevoller Ausbildung ihr Leben damit verbringen, die fixierten Großen Werke der Großen Toten neu zum Leben zu erwecken. In der Praxis bedeutete das museale Repräsentation. Die Kustoden der aus der Vergangenheit überkommenen Gemälde und Statuen hatten es leichter, sie mussten nur für sorgsame Aufstellung sorgen, und für Restauration. War auch schon Arbeit, erforderte auch schon hitziges Diskutieren. Die Kustoden aber der aus der Vergangenheit überkommenen Musik mussten diese Musik, in schier unendlicher Mühewaltung, immer wieder neu realisieren. Schließlich, von selber realisierte sich die Musik ja nicht, sie musste erklingen. Die Große Musik der Großen Toten in Endlosschleife zum Erklingen zu bringen, immer wieder neu: dazu wurden die Musiker erzogen. Sie wurden nicht erzogen, selber Musik zu erfinden. Sie wurden nicht erzogen, neue Werke zu schaffen. Sie wurden nicht erzogen zu komponieren. Die Produzenten der populären Musik, die komponierten. Um die Wette. Denn die Hörer wollten ja neue Musik, jeden Tag was Neues. Die Produzenten der populären Musik komponierten gewöhnlich nicht nur, sie waren ihre eigenen Interpreten, sie schrieben die Musik selber, die sie dann auch aufführten. Die Musiker der selbsternannten Hochkultur realisierten unter unsäglicher Mühe die Werke der Großen Toten. Sie komponierten nicht mehr. Das Komponieren wurde ihnen nicht mehr beigebracht, vor allem wurde es ihnen nicht mehr nahegelegt. Das mählich vergreisende Publikum aus kultisch Hörenden wollte ja keine neue Musik hören, es wollte die Große Musik der Großen Toten hören. Für neue Musik, selbst wenn die Musiker sie geschrieben hätten, wäre kein Markt vorhanden gewesen. Niemand wollte einen Pianisten hören, der seine eigene Musik schrieb und sie selber spielte. Man wollte hören, wie er die Musik der Großen Toten wiedergab. Notengetreu. Werkgetreu. Aber in neuer Interpretation! Die neue Interpretation eines zehntausendfach schon gehörten Werkes wurde als „erregend“ oder gar „elektrisierend“ gefeiert, auf jeden Fall aber als „beglückend“. Eigene Werke wurden von dem erregenden und beglückenden Interpreten nicht einmal als kurze Zugaben am Ende seiner Konzerte erwartet. Nun ja, eigene Werke wurden im Grunde nicht einmal geduldet. Man wollte das nicht. Ein eigenes Werk eines Interpreten konnte auf keinen Fall „groß“ sein. Denn die Große Musik, das war aus der Vergangenheit überkommene Musik. Es muss kompositorische Talente unter den Musikern dieser Zeit gegeben haben, SIE senkt nicht in die eine Zeit begabte Menschwesen, in die andere nicht. Aber die Begabten unter den Musikern hatten nur die Wahl, entweder kreativ zu vertrocknen, oder sich der populären Musik zuzuwenden. In der populären Musik wurde wirklich Musik gemacht, in dem selbstverständlichen Sinne, dass täglich neue Musik komponiert wurde, in überbordender Fülle. Es wurde mehr Musik komponiert, als ein einzelner Hörer jemals überblicken, geschweige denn hören konnte. Niemandem, der die Ohren aufsperrte, konnte das verborgen bleiben.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)