Angst

„Ein großer Meister ist das seines Faches“, meinte Magdalena zu Grand Mère, als sie den Weg zum Obstgarten suchten, „und ein gutes Leben hat er sich erwählt, meinst du nicht auch?“

„Ja“, erwiderte Grand Mère, „sicher hast du recht, jedoch …“ Sie blickte sich um und fuhr fort: „Jedoch muss ein jeder seinem eigenen Weg folgen, dem Gesetz, das Vautrin für ihn vorgesehen, und wir sind Kaufleute, nicht wäre unser Platz hier an festem Ort.“

Nein, das stimmte ja, und bei aller Freude an der Bequemlichkeit und Wohlhäbigkeit von Bernhards Haus hätte Magdalena doch nicht mit ihm und seiner Familie tauschen mögen, gewiss nicht … wenn sie einmal alt sein würde, sehr alt, so dass sie sich auf den Wagen und der endlosen Dauer der Wege nicht mehr würde halten können, dann würde es vielleicht gut sein, ein warmes Plätzchen zu haben am Herd, und einen gesicherten Lauf der Tage, ohne Überraschungen und Not …

Ohne Überraschungen und Not, doch auch ohne Freude, dachte Magdalena.

Sie blickte sich um, wie es eben Grand Mère getan hatte, und spähte über die Baumwipfel, in der Hoffnung, einen Blick auf die Silberstadt zu erhaschen, doch war das vergebliche Mühe, das dichte Blätterwerk hinderte die Sicht, sie hätte vorgehen müssen zum Fluss, um die gleißenden Türme zu sehen. Aber was hätte das schon genützt.

Magdalena blieb stehen und sagte: „Ich habe Angst, Grand Mère.“

„Aber Mama …“ sagte Inge, die hinterherkam, und sie umarmte und küsste ihre Mutter, und dann begannen sie zu weinen, alle beide.

Grand Mère drehte sich um.

„Meine Töchter“, sagte sie, „da ist nichts, was wir tun könnten … warten müssen wir, und besser wär’s, die Zeit zu verkürzen durch Arbeit, nicht das Herz zu belasten durch fruchtloses Sorgen.“

Das war klug gesagt von Grand Mère, aber kann man denn immer tun, wie man will?

Minchen, die als letzte hinterdrein gegangen war, erschrak, als sie die Frauen weinen sah, sie wurde von Angst erfasst, und eilig sagte sie: „Kommt doch weiter in den Garten, schön ist es dort, und ihr werdet euch erfreuen an den Bäumen und den Gemüsebeeten, sehr künstlich hat Elvira sie angelegt …“

Immer, wenn Minchen von etwas beunruhigt wurde oder gar Angst bekam, suchte sie schnell etwas Angenehmes oder Lustiges oder Wohltuendes, an das sie denken könne, das war so ihre Art, und sie wusste, wenn sie es erst einmal ergriffen hatte, so würde es gleich und mit geringer Mühe ihr Denken ausfüllen, es ganz in Anspruch nehmen, so dass sie der Angst und Unruhe vergaß, das war wie – wie ein Ungeheuer in der Ferne, bergegroß, und ein Kieselstein in der Nähe, winzig wie ein Fingernagel, doch wenn man den Stein, den glänzenden, lichten, gerade vors Auge hob, so verdeckte er alles, das Ungeheuer, die Ferne, die ganze Welt.

Es scheint, dass nicht wenige Mädchen es halten wie Minchen, deshalb sind Mädchen auch so sänftigend im Umgang, so lieblich, so hell – so ohne Tiefe.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 10.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)