Bekenntnis

Dass wir uns zu den Großen Meistern der Vergangenheit bekennen, überlegte der Junge laut, ist die eine Sache. Ob aber die Großen Meister der Vergangenheit, bei näherer Kenntnisnahme und Würdigung der geschichtlichen Entwicklung, heute noch so besonders scharf darauf wären, zu uns zu gehören?

Neue Freunde schuf er sich mit solchem Nachdenken nicht. Seine Antwort war, er setzte noch einen drauf.

Wenn euch das ein solcher Schmerz ist, sagte er, dass keine Großen Werke mehr geschrieben werden, sondern dass alles Gültige in der Vergangenheit entstanden ist, im vergangenen ein und für alle Mal, dann setzt euch doch hin und schreibt was! Schreibt Werke! Gültige Werke! Wieso sollen die Menschen in früheren Zeiten imstande gewesen sein, große Werke zu schaffen, und wir heute nicht mehr?

Da rangen die Tiefen um Antwort, und zwar um Leuchterantwort, sie fühlten sich aufgerufen, zu widerlegen und niederzubeweisen. Vor allem war jede Spur eines Gedankens auszurotten, lebende Menschen in lebendiger Gegenwart könnten irgendetwas schaffen, was nachher Gültigkeit beanspruchen dürfe. Geht doch gar nicht! versicherten sie und redeten begründend von Kulturverderbnis. Hoffnungsloser und unüberwindbarer Kulturverderbnis in Zeiten der Reklame und der Bewusstseinsindustrie. Hier wussten sich Stiefel und Mützen einig, in einer Nahtlosigkeit, die nur deshalb nicht auffallen konnte, weil die Stiefel und die Mützen alle Diskussion über Kultur ziemlich sauber zwischen sich aufgeteilt hatten. Die Kultur, die den dummen Massen gefiel, kam in dieser Diskussion nicht vor. Das Affengeheul war keine Musik, also musste darüber auch nicht geredet werden. Das Lesefutter, das die dummen Massen verschlangen in Mengen, bis dahin unbekannt auf dem Planeten, war jedenfalls keine Literatur, also musste auch darüber nicht geredet werden. Im Diskussionsmonopol der Stiefel und der Mützen über das, was sie selber „Kultur“ nannten, und was im Feuilletonteil der Zeitungen breitgewalzt wurde, fiel die eigentliche Kultur des Zeitalters als quantité négligeable durch den Rost. In der Perspektive der Tiefen jedenfalls, ob sie nun Mützen auf dem Kopf trugen oder an den Beinen Stiefel. Denn in Wahrheit existierte die Kultur des Zeitalters, und zwar sehr munter, ohne sich um die Kritik im Geringsten zu kümmern, genau gesagt, ohne die Existenz der Kritik überhaupt wahrzunehmen. Die Produzenten der sogenannten populären Kultur interessierte Kritik nicht. Die Produzenten der populären Kultur interessierte, ihre Produkte auf den Markt zu bringen und Käufer zu finden, denn von den Käufern lebten sie. Die Produzenten der Hochkultur lebten von den Subventionen, die gewöhnlich aus Zwangsbeiträgen der Steuerzahler bestanden, also jener kleinen Leute, die von ihrem ersparten Geld sich die Produkte der Populärkultur kauften, während mit den von ihnen eingetriebenen Steuergeldern der Schwindel der Hochkultur finanziert wurde. Mützen wie Stiefel konstruierten herablassend, um dem offenbaren Widerspruch irgendwie zu begegnen, eine Teilung der Kultur in „Hochkultur“ und „populäre Kultur“. Ich habe schon kurz angedeutet, dass der Junge in allen seinen Leben zu dem nämlichen Schluss kam: die Hochkultur existierte nicht, sie war wesentlich Feuilletonschwindel, und die sogenannte populäre Kultur war ganz einfach die Kultur des Zeitalters, nämlich dessen Kultur schlechthin. Die Hochkultur fand statt im Feuilleton, die populäre Kultur in der Wirklichkeit.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 09.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)