Scheinlebendig

Sie hatten wohl eine dunkle Ahnung, die Tiefen, dass mit ihrem Kult der Großen Toten etwas nicht stimmen könne. Sie verachteten die Lebenden. Ganz unverhüllt. Um nicht vollständig zu versinken in Gruft und Gestern, versanken sie in Worten, zu lächerlich, sich lang darüber auszulassen. Sie kreierten Notensammlungen, sie kreierten Reihen von Schallplatten, Editionen, wie sie gern sagten. Editionen Lebendiger Musik. So sagten sie wirklich. Lebendige Musik, das stand als Reihentitel über den Noten, den Schallplatten. Was war gemeint? Wenn der kundige Käufer das Label sah, Lebendige Musik, dann wusste er, es handelte sich um alte Musik, nämlich um Musik, die seit mindestens zweihundert Jahren in der Welt war. Um Musik, komponiert und niedergeschrieben zu einer Zeit, da die Musiker und ihre Hörer noch Perücken trugen. Ja. Die Editionen solcher Musik nannten die Tiefen „Lebendige Musik“. Der Junge hatte nichts dagegen, es war zu dieser alten Zeit wunderbare Musik geschrieben worden, von vielstimmiger Durchlichtetheit, dabei melodisch und verwinkelt, Abendwege durch verdämmernden Garten, oder durch klösterlichen Kreuzgang. Schön zu hören, noch schöner zu spielen. Und es war ja gut, dass solche Musik nicht der Vergangenheit und dem Grab überlassen blieb, sondern gehoben wurde in die Gegenwart. Es war ja gut, den Meistern der Vergangenheit zu begegnen auf respektvoller Augenhöhe. Aber was ist ein Respekt vor den Toten wert, der auf Kosten der Lebenden geht? Hätten die Alten Meister das gerne gesehen? Hätte ihnen die Vorstellung behagt, als Tote gerühmt zu werden um den Preis, dass die Lebenden niedergemacht werden? Was für einen Sinn sollte das haben, die Produktion der Vergangenheit auszuspielen gegen die Produktion der Gegenwart, und die Produktion der Vergangenheit zu bezeichnen als Lebendige Musik, damit andeutend, in der Musik der Gegenwart, da sei kein Leben, kein bisschen?

Die Tiefen überschlugen sich, in immer höhnischer, immer schriller werdender Argumentation. Moderne Musik! hämten sie. Modern, das ist doch gar nichts! Das Moderne von heute ist das Antiquierte von Morgen! Modern, alt, wen interessiert das! Es gilt doch vielmehr, sich am Gültigen zu orientieren! Nicht am Modernen, nicht am Alten, nicht am Heute, nicht am Gestern! Sondern am Gültigen! Eben an den Großen Toten! Die sind immer modern!

Sie konnten sich auf die Schenkel schlagen vor Triumpf, wenn ihnen solche Formulierung gelang. Wenn ihnen solch Niederbeweisen gelang. Es gilt, sich am Gültigen zu orientieren!

Die Großen Meister der Vergangenheit, schrien sie überschnappend. Die sind nicht tot, die sterben niemals, die sind unsterblich.

Das war das Wort. Unsterblich.

Die sind unsterblich, und indem wir uns zu ihnen bekennen, haben wir teil an ihnen. Ja! Im Bekenntnis zu den Großen Werken der Vergangenheit, zu den unsterblichen, den immerlebenden Werken formen wir uns hinein in die! In uns leben die Meister der Vergangenheit weiter, in unserem Bekenntnis zu ihnen haben sie das ewige Leben!

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 07.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)