Die dummen Massen strömten derweilen zusammen andernorts und hörten klatschend und johlend und mitbrüllend Musik, an der sie wirklich Spaß hatten. Eigentlich hörten sie weniger die Musik, sie machten jubelnd mit bei der Musik, sie feierten die Musik als Ereignis, als donnernden Tag. Musik erklang für die nicht, für die ereignete sich Musik. Sie wollten, dass die Musik über sie käme, und die Musik tat das. Sie hatte entsprechend laut zu sein, die Musik, um dieses Jubeln und Mitfeiern der Fans zuverlässig zu übertönen. Popmusik war nicht einfach laute Musik, Popmusik war dröhnende Musik. Um das überhaupt leisten zu können, war Popmusik elektrifizierte Musik. Popmusik war von Anfang an elektrisch verstärkte Musik, darauf angelegt, die Fenster aus dem Konzertsaal zu sprengen, oder das Dach vom Stadion zu heben. Die Ohren spitzen musste da niemand, die Darbietung wollte nicht gehört werden, sie sollte den Hörer plattmachen. Tat sie. Die Hörer wollten die Basstöne nicht bloß hören, sie wollten sie spüren, im Vibrieren des Bodens der Wände und vor allem der eigenen Magengrube. Es geschah also. Bei großen Veranstaltungen schluckten die elektrischen Anlagen den Strom einer Mittelstadt. Recht so! freuten sich die Fans und kamen zusammen zu Zehntausenden, zuweilen zu Hunderttausenden. Damit jeder Mitfeiernde noch von seinem hintersten Platz aus seine Helden auf der Bühne sehen könne, mit seinen Augen aus Fleisch, wurden die bewegten Bilder des Heldentuns zeitgleich auf häuserhoch die Bühne flankierenden Bildwänden wiedergegeben, und die Feiernden beteten ihre Helden an, sie beteten sie wirklich an, das waren keine Großen Toten, da vorne auf der Bühne, das waren Große Lebende, und die hingerissenen Fans, Rotz und Wasser heulend zuweilen vor Begeisterung, hatten keine Hemmung, die Lebenden zu feiern.
Die Lebenden.
Die kultisch Hörenden, feiernd ausschließlich die Großen Toten, erklärten sich diese kindliche Freude der Pophörer damit, dass die dummen Massen eben vom Verblendungszusammenhang vernebelt seien und einer Bedürfnisbefriedigung folgten, die ihnen von der perfiden und interessengesteuerten Bewusstseinsindustrie erst eingeredet worden sei. Das ist eben die Reklame, wussten sie. Weckt Bedürfnisse, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Nur wir durchschauen das!
Sie wollten kaum gelten lassen, die Konzerte von Popmusikern als Konzerte zu bezeichnen. Konzert, das war doch was Heiliges, Kultisches! Konzert, das war Zelebration der Tiefe!
Wohingegen, in den sogenannten Popkonzerten, das ist doch alles oberflächlich das ist doch alles primitiv, da orientiert sich doch alles am primitivsten und niedrigsten Massengeschmack, da geht es doch bloß darum, aus den dummen Massen das Geld rauszuholen! Möglichst so, dass die das nicht einmal merken!
Wie allen, die sich als Durchschauer und Durchblicker einer Verschwörung wissen, war ihnen die Wirklichkeit so egal, dass sie sie erst gar nicht zur Kenntnis nahmen. Sie wussten nichts von der Musik, die sie verachteten, sie hörten sie nicht, schon gar nicht kultisch, und sie trugen erst recht nichts zu ihrer Mehrung bei.
Sie höhnten gern, Popmusiker könnten auf ihren Instrumenten nicht mehr als drei Akkorde spielen.
In der Regel genau die drei Akkorde, die sie selber auf einem Klavier nicht zusammenbekommen hätten.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 05.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)