Die Kommensalität beim gemeinsamen Verzehr der akustischen Schlachtplatten ebenso wie das offensichtliche Zelebrieren eines Ahnenkultes hätten eigentlich Themen für die Historiker sein müssen, oder jedenfalls für die Religionshistoriker, oder, so dachte der Junge, doch allermindestens für die Religionsphänomenologen?
Und für die Theologen nicht auch? Hätten die sich über die Wiederkehr primitiver Kulte nicht Gedanken machen müssen?
Ja. Hätten. Müssen.
In Parenthese lasst mich einfügen, dass die echten Ahnenkulte, so es auf dem Planeten Erde stets in reicher Zahl gab, das epitheton ornans „primitiv“ niemals verdienen. Aber zur Jugendzeit des Jungen redete selbst die Religionswissenschaft ganz allgemein von primitiven Kulten primitiven Religionen, und meinte damit alle, die den Normen des eigenen Hochgefühls nicht entsprachen. Die eigene Kultur war für die Leuchter Hochkultur, die eigene Religion, selbst wenn sie sie ablehnten, Hochreligion. Man unterschied zwischen Hochreligionen und primitiven Religionen. Die primitiven Religionen nannte man gerne auch Stammesreligionen.
Ich muss nicht mehr erwähnen, tue es doch, dass das Einzige, was SIE interessiert, ist: ob ein Menschwesen IHRE Stimme hört und IHR gehorcht oder nicht. Wenn die Gläubigen einer Stammesreligion auf dem Dorfplatz zusammenkommen, in der Abenddämmerung, um feierlich die Knochen der Alten zu inthronisieren auf vorbereitetem Festaltar, indes die Affen schreien im dunkelnden Dschungel, und wenn dann die versammelten Dörfler, durchschauert bis ins Mark, einen Schimmer verspüren von IHRER Gegenwart, dann ist der Kult nicht primitiv, sondern gerechtfertigt vor IHR. Dann ereignet sich Hochreligion. Denn Religion ist niemals etwas, was einfach existiert, was einfach da ist. Religion ist, was sich ereignet. HochreligionHochreligioWenn der Mitmacher einer selbsternannten Hochreligion beim Vollzug des Kultes weniger empfindet als beim Abrollen seines Klopapiers, dann ist dieser Kult alles Mögliche, aber nicht gerechtfertigt. Er ist noch nicht einmal Religion. Er ist einfach sinnloses Handeln. Handeln, dem die Mitte fehlt. Zur Entschuldigung eines solch leeren Kultes lässt sich dann nur sagen, dass die kultisch Handelnden vielleicht ehrlich hoffen, es möchte Mitte ihres Kultes unversehens sich ereignen, als Überfall womöglich. Mitte eines jeden Kultes aber kann immer nur eines sein: das lebendige Gewahrwerden IHRER Gegenwart.
Wollte ich nur noch mal eingeflochten haben.
Und? Wurde geredet über Kommensalität und Ahnenkult, in der religionswissenschaftlichen Literatur zur Jugendzeit des Jungen?
Die Frage stellen heißt mal wieder, sie schon beantwortet haben.
Die wissenschaftliche Literatur daraufhin durchforstend, traf der Junge auf beredte Sprachlosigkeit. Auf die nämliche Sprachlosigkeit, wie wir sie schon von den Selbstbemachern kennen, sobald die Themen Hochstapelei oder Grinsen auf den Tisch hätten kommen müssen. Höchstens begegnete der Leser der einen oder anderen vagen Rederei. Essayistisches Zeug ohne Tiefgang. Es wurde zum Beispiel gern das Wort „Religionsersatz“ bemüht, wenn es um das kultische Hören ging. Die Ähnlichkeit der Konzerthäuser und Opernbühnen mit Kultanlagen blieb ja nicht unbemerkt. Mindestens einer der Gestörteren unter den Großen Toten hatte ganz dezidiert die Bühne, gebaut und gewidmet ausschließlich der Aufführung seiner eigenen Werke, als Weihetempel konzipiert. Darbietung wie Aufnahme seiner Großen Werke sollten sakraler Akt sein.
Hochbetung! Kult!
Der Junge suchte nervös in der Bibliothek. Dies alles musste doch Gegenstand umfassender Untersuchung sein?
Er lernte: Kannst du lange suchen. Genauere, gar umfassende Untersuchung war ungefähr das letzte, was die kultisch Hörenden selber gewollt hätten. Schon bei dem oberflächlichsten Hineinleuchten in den Kult wurden ja die Untiefen des Größenwahns sichtbar. Die kultische Selbstüberhebung der Gläubigen, die im kultischen Hören sich als groß zu erkennen meinten. Nein, sie konnten einer Kinderflöte keine Töne entlocken, aber kultisch die Tiefe nachfühlen in den Großen Werken der Großen Toten, das meinten sie zu können: weil sie eben diese Tiefe selber hätten. Im Wesentlichen kamen sie kultisch zusammen, um kultisch sich selber zu feiern. Wir sind die Großen, wir sind die Tiefen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 03.04.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)