Verflossen

Dass Musik einer verflossenen Zeit entstammte, wurde schon in sich zu so etwas wie einem Gütesiegel. Dass ein Tänzchen vor zweihundert Jahren zu Papier gebracht worden war, auf dass man es auch heute noch spielen könne, das legte nahe, dass es sich um gute Musik handele. Vielleicht nicht unbedingt um große, aber doch um gute. Wohlgemerkt, allein die Herkunft aus der Vergangenheit schuf solchen Vorschuss. Die Herkunft aus der Gegenwart veranlasste angewidertes Kopfschütteln. Was aus dieser Gegenwart kommt, das kann gar nicht gut sein.

Vorweg wurde der kulturellen Produktion verflossener Jahrhunderte ein höherer Schätzwert zugemessen als allem Bemühen der Gegenwart.

Was immer in der Gegenwart produziert wird, so wusste man, das ist Ramsch. Das ist Müll. Das kann gar nichts anderes sein.

Bestenfalls trauriger Abklatsch.

So wussten die Tiefen, und sie erkannten sich selber als tief in diesem Wissen.

Vergangenheitskult.

Wurde bei Betrachtung der Literatur übrigens genauso praktiziert. Lebenden Autoren konnte unmöglich das Maß an Größe und Tiefe zukommen, das einige der toten Autoren bewährt hatten.

Die wussten damals noch um die Tiefe! versicherten die Tiefen.

Demnach waren die also groß und tief, überlegte der Junge, und heute erkennen das die Tiefen beim Lesen. Viele der Großen Toten waren verkannt, aber heute sind sie erkannt. Von den Tiefen. Die Großen Toten aber waren schon zu Lebzeiten tief, davon hat nur niemand wissen wollen. Warum eigentlich nicht? Die Tiefe war doch da, so sagen die heutigen Tiefen, warum hat niemand die sehen wollen? Wurde die Tiefe wurde die Größe im Werk der Großen Toten erst nachträglich sichtbar? Ist die Tiefe dem Werk vielleicht erst nachträglich zugewachsen? Behüte, das kann ja gar nicht sein. Die Tiefe war da, auf jeden Fall. Wieso sind die Großen Toten dann verkannt worden?

Zu jeder Epoche ist viel produziert worden, wurde ihm unwirsch erklärt. Die Zeit erst trennt die Spreu vom Weizen.

Dem Jungen wurde nörgelig zumute, und über seiner noch immer kindlichen Nase erschien eine tiefe Falte.

Wenn immer erst die Zeit hilft, überlegte er laut, die Großen Werke von den nicht so Großen zu trennen, wieso gilt euch dann unbesehen alles als schlecht, was heute geschaffen wird? Als wüsstet ihr vorweg, die ganze Ernte, das kann alles nur Spreu sein, ohne ein einziges Weizenkorn?

Dies gesagt, wurden die Antworten schnell hitzig. Du hältst dich wohl für besonders schlau! Hör lieber zu, wenn reife und erfahrene Menschen reden! Lern erst mal was! Hast du überhaupt deine Hausaufgaben schon gemacht?

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 30.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)