Wohlgemerkt, das war vor der Zeit, da die Großen Toten weniger gefeiert als vielmehr entlarvt wurden, indem man ihr verborgenes Eigentliches zu enthüllen anhub. Ihr Säufertum, ihr Schmarotzen, ihren Rassismus, ihre Freude an zu jungen Frauen, die Tatsache, dass sie Männer waren, was immer, ich habe schon davon geredet. In der Sache lief das jedoch auf dasselbe hinaus, es war in jedem Fall der Kritische groß, ob nun groß, weil er die Größe des Großen Toten erkannte, oder groß, weil er die verschwiemelte Kleinheit als das Eigentliche des vorgeblich Großen Toten erkannte, das war ja egal. So oder so zog der Kritische der Erkennende die Blicke auf sich und hatte das Wort, und der Große Tote tat, was das Menschtier von seinen Toten erwartet, er verhielt sich still und sagte nichts und streckte die Beine von sich und störte nicht mehr bei dem Beginnen, ob das nun Kult war oder Dekonstruktion, ganz egal, der Tote war tot und hielt den Ball flach.
Auf den Platten wurden gewöhnlich die Namen der gefeierten Interpreten, so die Großen Werke der Großen Toten realisierten, größer gedruckt als die Namen der Großen Toten selber. Die waren ja tot. Die störten nicht mehr. Mit der Literatur der Großen Toten traf mans noch besser, die Verleger druckten die Großen Romane und Großen Gedichte und kassierten die Einnahmen, an die Großen Toten musste nichts mehr abgeliefert werden, die waren ja tot, so ein Glück.
Und landauf landab versicherte man, zur Jugendzeit des Jungen, versicherte man sich selber und sich gegenseitig: Dass wir um die Größe der Großen Toten wissen, das macht uns groß. In diesem Wissen erkennen wir unsere Tiefe erkennen wir unsere Größe.
In Demut, versteht sich.
Und kassierend, versteht sich.
Heute, so wussten die Tiefen die Großen, heute erkennen wir die Größe dieses Toten, zu Lebzeiten war der verkannt. Die damals mit ihm lebten, die haben ihn nicht erkannt, denn sie waren finster. Das Licht kam in die Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst. Nun aber wir! Wir heute sind Leuchter, wir erkennen das Große, das sie damals nicht sehen mochten. Im Erkennen und Bezeugen des Großen teilt sich etwas von der Größe uns selber mit. Nur weil wir so tief sind, erkennen wir die Tiefe!
Nicht ganz logisch, dachte der Junge, dachte es schon als Vierzehnjähriger. Wenn die Große Musik der Großen Toten erwächst aus der nämlichen Tiefe wie nachher die Größe des recht erkennenden Kritikers, dann muss die Tiefe, aus der die Großen Toten schöpften, doch schon damals tief gewesen sein? Wieso hat dann das Volk damals die tiefe und große Musik verkannt, da sie mitten unter ihm erstand? Hatten damals womöglich nur die nachmals Großen Toten Zugang zu der Tiefe? Dann müsste ja aber das heutige Volk tiefer sein als das damalige, da es doch heute ganz allgemein die Tiefe erkennt, die Tiefe der Großen Toten?
Nichts zu machen. Die Tiefen wollten von Logik nichts wissen. Wer mit Logik kommt, so wussten sie, der zeigt vorweg, dass er sie nicht hat, die Tiefe. Die Tiefe muss man fühlen, die kann man nicht beweisen. Dass die Große Musik unserer Großen Toten tief ist, das fühlt jeder, der es fühlen kann, und dass dieses Geheul da Dschungelmusik ist, das fühlt auch jeder, der sich noch einen Rest von Gefühl bewahrt hat. Und wer die Dschungelmusik ernsthaft für Musik hält, mit dem stimmt eben was nicht.
Infolgedessen galt als eiserne Regel: Nur verklungene Musik ist gute Musik, will sagen, Musik von Personen, die bereits tot sind.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 28.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)