Ahnenkult

Insofern eigneten dem kultischen Hören auch Züge des Ahnenkultes. Die kultisch Hörenden verehrten nicht nur sich selbst und ihre Tiefe, sie verehrten die Großen Toten als die Ahnen. Die übermenschlichen Gestalten aus dem Ursprung, aus dem illud tempus, aus dem Ur der Dinge.

Darauf lief es hinaus. Die Großen Toten, die Urheber der Großen Musik, wuchsen ins Übermenschliche, ins furchtgebietend Numinose. Ihre Werke rückten hinüber in Gebreite der Unantastbarkeit, so wie den Geboten der Ahnen für viele Völker die Macht unhinterfragbarer Gesetze zuwächst. Worte wie „gültig“ oder „verbindlich“ kamen in Brauch und Umlauf. Damals sind die gültigen Formeln gefunden worden. In unaufhörlichem Ringen. In einsamem Ringen. Die Großen haben gerungen, bis sie zu verbindlichem Ausdruck sich durchgefunden haben.

Verbindlich. Gültig.

Solches schufen sie, die Großen Toten.

Die kultisch Hörenden redeten als von Titanen.

Von sich selber als von Idioten redeten sie nicht.

Sie verstanden auch die innere Unlogik ihres Kultes nicht, alle die Großen Toten hatten irgendwann ja einmal lebendig gewesen sein müssen, bevor sie hatten Große Tote werden können. Man deutete sie gern als zu Lebzeiten verkannt, wiewohl die meisten durchaus Namens und Rufes sich hatten erfreuen dürfen.

Aber verkannt! das war das Ding.

Ich bin verkannt, dachte die Pferdeschnauzige, wir sind verkannt unter den Völkern, wussten die tiefen Angehörigen des Scheißvolkes.

Der hohe Anteil an Missgunst im Ahnenkult der Großen Toten war offensichtlich. So recht befreit, will sagen, kultisch befreit mochten die tiefen Angehörigen des Scheißvolks ausschließlich Personen anbeten, anbeten als Titanen, wenn die bereits tot waren. Die Gründe liegen auf der Hand. Wer Tote verehrt, fühlt sich selber nicht so klein. Fühlt sich groß! Wer dem Können eines Lebenden konfrontiert ist, muss entweder eine ehrliche Haut sein, mit einer unbekümmert realistischen Einstellung zu sich selber, oder er macht den Lebenden klein und schwillt in seiner kritischen Größe. Ist der Lebende endlich tot, stellt sich das Problem nicht mehr, im Gegenteil. Dann erweist sich nämlich der Kritische gerade als groß, indem er die Größe dieses Toten erkennt! Indem er die Größe dieses Großen Toten erkennt, ist er mindestens ebenso groß wie der. Kämpft mit Titanenmacht gegen die Kleinen, die immer noch die Größe des Großen Toten bekritteln wollen! Aber nicht mit ihm, dem Kritischen! In seiner Größe erkennt der Große Kritische die Größe des Großen Toten, und der Große Tote stört dabei nicht mehr, denn er ist ja tot, GOttlob.

Dies Modell setzte sich durch. Es war befreiend. Länderweit wurden die Großen Toten verehrt, kniefällig bäuchlings, und kein kritisch Erkennender kein kritisch Verehrender musste sich klein vorkommen in seiner Verehrung, denn sie waren ja schon tot, die Großen Toten, sie konnten die Blicke nicht mehr auf sich ziehen. Wer sich hinstellte und einen Großen Toten pries, der zog alle Blicke auf sich, der Große Tote lag unterm Wrasen und streckte die Beine von sich und pflegte seine Unsichtbarkeit.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 26.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)