Volkskraft

Sie teilten die irre Überzeugung, irgendwann einmal sei der Geist herniedergetaucht auf die Erde, und die Menschen hätten, kraft welchen Wunders? aus der Tiefe geschöpft. Oder aus der Höhe. Oder aus dem Ursprung. Oder aus der energetischen Volkskraft. Aus der proletarischen Knochenwucht. Aus der wahren Überlieferung. Aus dem subversiven Widerstand. Was immer. Und das sei jetzt alles vorbei. Schrecklich. Überall nur noch Kommerz. Kasse machen die mit dem, was einmal echt war!

Aber man habe ja die Platten. Die echten die wahren die ursprünglichen Platten, die den unwiederholbaren Augenblick bewahrt hätten, den Kairos, da plötzlich und ohne Vorwarnung wahre Musik über die Erde gekommen sei, in diesem Konzertsaal da, als sich Überwältigung ereignet habe, in legendärer Momentanität in legendärer Monumentalität, die Überwältigung durch die Tiefe, oder in dieser Taverne da, wo zufällig ein eierndes Tonband mitgelaufen sei, einen Mitschnitt herzustellen.

Einen Mitschnitt.

Das war es. Sowohl für die Tiefen mit ihren Großen Toten wie auch für die Heuler mit ihrer verlorenen proletarischen Kraft stand die kultische Verehrung des Mitschnitts im Zentrum keuchen Hochbetens. Im hochbetenden Keuchen erkannten sie sich als wahre Kenner. Wer eintrat bei ihnen, nichts Böses ahnend, einen Kurzbesuch nur im Sinn, der musste sich kultisch hinsetzen und kultisch aufgelegten Platten kultisch lauschen, Platten, von denen krächzende Mitschnitte erklangen, heulend und scheppernd, und der Kenner ermaß sich daran, dass er in dem Gewimmer den wahren Augenblick erkannte, den einzigartigen, den unwiederholbaren, den Augenblick des Erklingens wahrer Musik, den Kairos.

Kairos, vom Mitschnitt am Schopfe gepackt.

Die Tiefen und die Heuler verachteten sich übrigens gegenseitig, da sie die Musik der jeweiligen Mitschnitte wechselseitig nicht als wahre Musik anerkannten.

Ist doch ganz einfach, dachte der Junge. Ihr seid alle dieselben Idioten, was soll da schwer zu verstehen sein?

Der Brauch des kultischen Hörens hatte einen gewissen Zug ins Kommensale, bei manchen Völkern war es ja Brauch, GOtt zu loben durch Teilnahme an kultischen Gemeinschaftsessen. Die Kommensalen speisten gemeinsam, die kultisch Hörenden hörten gemeinsam. Ihr seht aber den entscheidenden Unterschied. Die Kommensalen nämlich verehrten im gemeinsamen Speisen GOtt, als den Urheber aller Güter, die kultisch Hörenden aber verehrten bloß sich selber, nämlich ihre Tiefe. Die kultisch Hörenden lagen vor sich selber auf dem Bauch, indem sie hörend die Musik ihrer Großen Toten zelebrierten, mittels aufgelegter Platten. Schlachtplatte. Dass die Urheber der Großen Musik bereits tot sein mussten, war Voraussetzung für das kultische Hören. Große Musik war nur solche, deren Urheber tot waren. Musik, die im großen Damals entstanden war.

Das gibt es ja heute gar nicht mehr.

Wo findet man das heute noch.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)