Affenmusik

Der Junge, der anfing, die Musik vom fremden Kontinent wenigstens nach Gehör zu spielen, denn es gab Sender, die auch diese Affenmusik diffundierten, wurde, wenn er sich versehentlich offenbarte, Gegenstand fuchtelnder Beweisung. Das kannst du doch nicht im Ernst für Musik halten! Hast du dir überhaupt schon einmal richtige Musik angehört? Weißt du überhaupt, was das ist? Die Musik unserer Großen? Hör dir das doch erst mal an! Lern erst mal, was das überhaupt ist, wirkliche Musik, tiefe Musik! Vorher kannst du doch überhaupt nicht mitreden!

Werd mich hüten, dachte der Junge.

Sie konnten mitreden. Aber sicher. Sie konnten nicht einmal mit den Kinderklöppeln auf dem Klingklangbrett Töne erzeugen, aber mitreden, das konnten sie. Sie gingen in Konzerte und lauschten kultisch, sie saßen beisammen und suchten die richtigen Radiosender und lauschten kultisch, vor allem aber legten sie Platten auf und lauschten kultisch.

Lauschten kultisch und urteilten kritisch, das gehörte zusammen. Beurteilten in der Konzertpause mit so bedächtigem wie gewieftem Kopfwiegen die Interpretation, die dieser Sänger dieser Dirigent dieser Pianist dieses Streichquartett darbot, beurteilten die Tiefe, die ausgelotet worden war. Sie konnten das, denn sie hatten ja die Tiefe. Sie urteilten wichtig. Sie waren wichtig. Ihre Tiefe war verknüpft mit ihrer Wichtigkeit, wer tief war war wichtig, wer wichtig, tief. Ihre Tiefe bezeugte sich im kritischen Urteilen, und kritisches Urteilen bewährte sich vor allem als kopfschüttelndes Urteilen. Sie sagten: Das war mal eine Enttäuschung. Da hatt ich mir mehr erwartete. Ein bisschen mehr Mühe hätt sich der schon geben können. Hat der überhaupt verstanden, was er da gemacht hat? Das hat man so doch schon tausendmal gehört. Nun ja, was will man schon noch erwarten, heutzutage. Haha-hahaha.

Wohlgemerkt, es handelte sich um Gestalten, denen hättet ihr eine Kindermelodie aus dem Fünftonraum vorpfeifen können, Folge von vier bis sechs Tönen, nicht mehr, und sie wären nicht imstande gewesen, dieses Halbdutzend Töne auf den Tasten eines Klaviers zusammenzufinden, oder auf einer der gängigen Kinderflöten. Von Interpretation und Gestaltung aber wussten sie zu trumpfen ohne Ende, und wenn sie sich beim Klingeln am Pausenende verabschiedeten, zur zweiten Hälfte des Konzertes, wussten sie: Wir sind groß. Auf dem Podium, da bläst es und paukt es, wir aber sitzen zurückgelehnt und hören kritisch. Durchaus mit Abstand. Unserem kritischen Urteil ist dies Singen und Zupfen und Streichen unterbreitet, wir sind die Richter, vor uns und unser Urteil wird all dies getragen, und wir sprechen Recht.

Wer urteilt, ist auf jeden Fall größer als der, der macht.

Mit den Jahren packte den Jungen ein nicht mehr beherrschbarer Ekel vor dem Gesindel, umso mehr, als er die richterliche Pose einsickern sah sogar in Kreise, die sich eher der populären Musik zugeneigt fühlten. Auch dort erwuchsen die Sammler, die kritisch hörten. Die auf keinem Instrument einen brauchbaren Ton zu erzeugen wussten, aber sich in kritischem Bewusstsein von niemandem überbieten ließen. Die beklagten, dass von den Komponisten und Interpreten ja doch „immer nur dasselbe“ geboten werde. Dass die Popmusik sich selber wiederhole. Dass nichts Neues mehr nachkäme. Dass die Zeit des kreativen Aufbruchs vorbei sei. Es gab arme Schelme, die saßen auf einer wachsenden Plattensammlung und verehrten kultisch Zeiten, die gerade mal zehn Jahre zurücklagen, verehrten sie so kultisch, wie die Tiefen die Großen Zeiten der Großen Musik unserer Großen Toten verehrten. Das kommt nicht wieder, seufzten sie. Damals vibrierte die Luft! Vor Energie, vor Kreativität! Damals konnte man an jeder Ecke Musik hören, die lag damals in der Luft! Heute machen sie ja nur noch nach. Und verdienen! Damals ist es noch um die Musik gegangen. Heute geht es nur noch ums Geld! Die Musik ist zur Ware geworden!

Und sie heulten und jammerten, gerade wie die kultisch lauschenden Plattenaufleger, die die Großen Toten verehrten, Gejammer hohl über horizontloser Öde.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 22.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)