Kiesel

Eluard eilte über den Hof und durch den Korridor zurück zu Waldemar, der hatte ein Stöckchen aufgehoben und spielte damit im Kies, immer noch auf der Treppe sitzend, zeichnete Linien, gleich würde eine Schlange daraus werden, Eluard kannte das, immer wurden Schlangen daraus bei Waldemar, noch eine Kurve, ja … und zwei Punkte, das waren die Augen … und ein schlängelnder Strich am Kopf, mit gespaltenem Ende, das war die Zunge.

„Eine Schlange …“ sagte Eluard, träumend, mit schiefgelegtem Kopf, er stand auf dem Treppenabsatz, über Waldemar, und schaute über dessen Schulter hinweg in den Sand.

„Ja“, antwortete Waldemar und schüttelte dabei den Kopf, er war immer noch nicht besser gelaunt.

„Wir dürfen zum Fluss“, meinte Eluard, „Inge hat’s gesagt …“

Waldemar schien widerstrebend, von bockiger Lustlosigkeit, und wollte schon den Mund aufmachen, um ein quengelndes „Ooooch“ zu entlassen, da fiel ihm eine Gestalt ein, ein Klang – wer war das nur gewesen, der so gejammert hatte … irgendwann … wer – – –

Jeremias.

Das war’s. Jeremias. Das flennende Ungeheuer aus Dietrichs Haus.

Waldemar stand eilends auf, nahm kraftvoll den Stock zur Hand und sagte, bemüht, seiner Stimme einen tiefen Klang zu geben: „Also, dann gehen wir doch …“

„Ja, machen wir“, stimmte Eluard erfreut zu, er wusste nicht, was diesen Sinneswandel bewirkt hatte, aber zufrieden war er damit, und auch Waldemar fühlte sich besser, er hatte etwas getan, sich nicht gehen lassen wie ein kleines Kind … genau, kleine Kinder ließen sich gehen, heulten, wenn ihnen etwas quer lief. Er nicht. Nicht mehr.

Sie überquerten den Fahrweg und folgten dem Pfad zwischen den Weiden, da war der Fluss …

Silberflut, aufgelöst die Nebel. Links die Brücke, schwingender Doppelschlag, die schlanken Türme, die Stadt, das Tier. Fort die Rauchsäule. Am anderen Ufer, drüben, wiegten sich die Schilfwiesen unter dem grauen Himmel, und weite Ebene fand sich dahinter, ungestört bis zum Horizont, der war verschwommen, von unbestimmter, sehnsüchtiger Nähe.

„Schön ist das …“ sagte Eluard. Tief sog er die Flussluft ein, ihre Weiche und Zartheit, vermischt mit Ahnung von Tiefe, Wassergründen.

Und kühl war es, doch nicht so, dass man fror, sondern zärtlich war die Kühle, umstrich die brennenden Augen, dass sie des Schlafs vergaßen, und Waldemar schüttelte die Reste seines Ärgers ab.

„Gehen wir hinunter“, meinte er, und sie stiegen die fünf Stufen hinab zum Kiesufer.

Wie sich das anfühlte, unter den Füßen! Man musste vorsichtig auftreten, um sich nicht Schmerzen zu bereiten, das war kein feingemahlener Kies, Ablagerung von Wellenschutt, nein, hier waren faustgroße Knollen angelandet, die hart den Fuß stoßen konnten, unbehaglich drückten; doch waren sie fein rund geschliffen alle miteinander, wenn man sie in die Hand nahm, fügten sie sich der Fläche ein, mit schmeichelnder Härte, wohltuender Schmiegung.

Die Jungen traten zum Wasser, klar war das, so kristallen klar, wie es Flusswasser nur an verhangenen Tagen ist, wenn die Sonne nicht das Spiel der Tiefe stört mit glitzernden Reflexen.

Hinein … ein Schritt, noch einer. Streichelnd wird die Haut umflüstert, es plätschert, wenn man den Fuß hebt … nur leise … und Kühle, wie schön, Kühle quillt zwischen den Zehen, unter den Sohlen ist höckrige Härte, ja, vorsichtig aufsetzen muss man, und erst das Gewicht erproben, ehe man sich lastend daraufstellt …

Blasse Striche fliehen im Wasser, das sind die Schleie … dann legt sich Weiche über die Steine, und eine nicht ungefährliche Glätte, Algen, lange, fließende Algen wachsen auf dem Kieselpolster, man muss acht geben, nicht auszurutschen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, die beiden Jungen schreiten balancierend umher in der murmelnden Kühle, die Arme ausgebreitet, um Halt und Gegengewicht zu haben, wenn sie fehltreten und schwanken …

Eilige kleine Schritte tappen oben auf dem Weg, kommen die Treppe herunter, ja, das ist Minchen, sie hat es doch nicht mehr ausgehalten bei den anderen Frauen, hat gemeint, es wäre besser, wenn jemand auf die Kinder acht gebe, und Elvira, die sie durchschaut, hat gelacht und sie gestreichelt und fortgeschickt, und da ist sie nun.

Sie steht eine Weile unentschlossen am Ufer, sie ist süß, sie schämt sich, dann nimmt sie sich ein Herz und fragt: „Darf ich mit euch spielen?“

„Ja“, sagt Waldemar und tastet sich vorsichtig zum Ufer zurück, und: „Natürlich“, respondiert Eluard.

Minchen macht große runde Augen und fragt: „Soll ich euch zeigen, wo es hier Steine gibt, zum Sammeln … ganz, ganz schöne?“

Wenn Waldemar noch nicht recht wach war, so wird er’s jetzt: „Jaaa“, ruft er, „zeigs uns, bitte …“

Und Minchen ist glücklich.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)