Kultisch

Bei all seiner Tiefe war im Scheißvolk die Zahl der Personen, die, zum Beispiel, ordentlich zu musizieren lernten, auch nicht größer als anderswo. Wär auch zum Staunen, wenn es anders gewesen wäre. Sie sind alle Menschtiere, auf dem Planeten Erde, und unterscheiden sich nicht groß.

Woran erkannte dann der durchschnittlich begabte Angehörige, will also sagen, der durchschnittlich unbegabte Angehörige des Scheißvolkes seine Tiefe?

Zum Beispiel zur Kinderzeit des Jungen, also zu einer Zeit, da das Stiefelimperium untergegangen war, und alle sagten, wir sind keine Stiefel, wir waren nie Stiefel, aber tief sind wir, sowas hat die Welt noch nicht gesehen?

Woran erkannte der tiefe Angehörige des Scheißvolks seine Tiefe?

Er erkannte sie im kultischen Hören von Musik, und zwar im kultischen Hören richtiger Musik.

Er erkannte sich als tief, indem er sich bekannte. Zur richtigen Musik. Sich bekannte zur richtigen Musik, indem er sie kultisch hörte.

Das kultische Hören verwirklichte sich im schweigenden, gern beisammenen Sitzen und Hören, mit nachfolgender Bekundung von Ergriffenheit. Das Hören konnte sich in der Beiwohnung einer aktualen Darbietung realisieren, aber ohne weiteres auch als Hören von Konserven. Wichtig war, dass es sich um richtige Musik handelte, Musik vorzugsweise, die von lange schon toten Personen auf dem richtigen Kontinent geschrieben worden war, also dem eigenen.

Das kultische Hören verwirklichte sich in tiefem Schweigen und noch tieferem Ernst, der gern ins Drohende, um nicht zu sagen ins Wütende überging.

Kultisches Hören am Sonntagnachmittag. Hören von „Platten“, ich habe das schon angedeutet. Das „Auflegen“ von Platten war kultische Handlung. Platten, das war was Kostbares. Platten, das war das Ding. Nur die Betuchten konnten sich Platten leisten, für die weniger Betuchten blieb das Radio, das diffundierte Sendungen mit richtiger Musik, Musik der Richtigen.

Die Musik, so zum Beispiel von dem Kontinent kam, da man aufgebrochen war, dem Hineinscheißen und Hineinschießen in Gesichter ein Ende zu setzen, das war ganz sicher keine richtige Musik, und auf keinen Fall Musik der Richtigen. Im Gegenteil, die Richtigen waren sich einig, das ist überhaupt keine Musik, das ist Affengeheul, aus dem Dschungel.

Genau genommen, die von diesem Kontinent von jenseits des Meeres, die waren ja nicht einmal richtig zivilisiert. Nein. Konnte man nicht sagen. Die waren Barbaren. Über die konnte man nur den Kopf schütteln.

Wir Tiefen, wir haben die Kultur. Wir sind beispielgebend.

Glaubten sie wirklich. Versicherten sie sich gegenseitig. Sie waren Massenmörder, sie waren Vergewaltiger und Totschläger, sie waren Rechtsbeuger sie waren Abstreiter sie waren Strafvereiteler, sie waren dies alles reflexhaft und ohne Skrupel, sie waren Gewohnheitslügner und Räuber und Routinehehler, das ganze Land saß auf einem Fundament aus Gebeinen, vermörtelt mit Blutbrei und Diebsgut, und sie nickten sich zu und sagten, unsere Kultur, das versteht ja keiner, das kann nur einer nachvollziehen, der die hat, unsere Tiefe unsere Sehnsucht, ein Pfeil der Sehnsucht sind wir nach dem anderen Ufer, dieses Streben nach dem Unendlichen, das ist tief in uns drin, weiß überhaupt noch einer, was das bedeutet, wissen diese Jugendlichen überhaupt noch, welch ein Erbe die wegwerfen, welch einen Schatz die einfach verschleudern?

Sie schüttelten die Köpfe, und das war dann immer der Augenblick, da ihnen die Gesichtszüge entgleisten, ins Wütende.

Ins Wütende und ins Würgende, denn die Gesichter schwollen ihnen dabei wie Pressenden, so auf dem Abort den Pfropf ihrer Verstopfung in die Schüssel zu knallen suchen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 20.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)