Und begann die große Zeit der Möglichkeiten.
Der Erwartungen. War Angst da, und Traum, Spannung. Flüchtige Gedanken an das Ungeahnte, ausgespannt zwischen Tod und Leben, die tastenden Heimlichkeiten des Fleisches.
Angstlust, und schwebendes Ungefähr.
Gepresst die Brust, dass sich ihr Seufzer entringen, unwillkürlich, Tränen und Klagen, und doch auch Hoffnung, Erwartung des Anderen.
Redend, schauend durchstreiften die Frauen das Haus, den Garten, die Stallungen, wussten von vielerlei Gebräuchen, von Nutzen und überlieferter Tätigkeit, alltäglich die Worte, bezeichneten Vertrautes.
Doch fieberten alle. War keine, die sich nicht selbst sprechen hörte. Und sie schauten sich an, gegenseitig, mit Heimlichkeit, ob sie einander etwas absähen, hofften, dass die vertrauten Gesten, nur vorgespielt, genügend Wahrscheinlichkeit besäßen, Alltag und Gewohnheit herzustellen; doch vermochten sie’s nicht.
So trugen sie ihre Angst und ihre weiten Erwartungen, ausgreifendes Leben, und stellten davor das Gebaren der Häuslichkeit, so war Einverständnis im doppelten Sinne: die Gesten der Alltäglichkeit verstanden sie wohl, doch ebenso die große Freude der Angst.
Freude?
Das Abenteuer der Veränderung war möglich geworden; doch noch nicht eingetreten, noch konnte Alltag seine Stelle behaupten, wenngleich nur in Gesten. Das war es: fließendes Zwischen, Veränderung ohne Verbindlichkeit.
Was war möglich? Möglich war, dass die Männer nicht zurückkehren würden, oder verletzt, oder krank. Groß wäre die Not, wenn das eintreten würde. Doch jetzt, als Möglichkeit, öffnete es den Horizont der Zeitlichkeit, der allzu vertrauten, ließ Leben ahnen: die Ungesichertheit von Augenblick zu Augenblick. Leben aber ist, was Menschen immer suchen, groß und verzehrend seine Schauer.
Lust war darin, auch. Denkt euch ein Kind, das in dunklem Zimmer eine Gestalt vor sich sieht, schwarz und voll schreier Tierheit; atemnehmend, starr steht da die Schwarzmannsangst, dass nur Lähmung, Unbeweglichkeit noch Rettung ist. Und ihr seht, dass das Kind die Hände geschlagen hat vors Gesicht, die Augen bedeckend, Abwehr vor dem Unmöglichen, dem Unerträglichen. Und nun schaut genauer hin, ist da nur Demut, wehrlose Hinnahme, Opfer?
Nein.
Es blitzt zwischen den Fingern, dunkel, vom Blitz des Lebens. Das Kind nämlich, unter den vorgeschlagenen Händen, hat die Augen geöffnet, blinzelnd, einen Spalt weit, und späht, wohin es nicht spähen wollte, will schauen, wovor es doch den Blick abgewendet hatte, kann nicht anders, übermächtig ist der Zwang, aus der Verborgenheit hineinzusehen in die große Bedrohung.
So hockt es also, gedrängt in seine Ecke, vor sich die starke, lauernde Möglichkeit, die Hände vors Gesicht geschlagen, wehrlos, ausgeliefert, und doch spähend, voll einer unergründlichen Hoffnung, dass das Befürchtete eintreten möge, dass das Tier heraustrete aus dem Schatten und werde zum Sein, zur strotzenden Fülle seiner Wirklichkeit.
Angstlust.
Und die Frauen spürten, dass die Tatsache des Morgen gewichen war der weitgespannten Fläche der Möglichkeiten.
So wurde der Schrecken zum Geschenk: zerschmolz die kleinen, engen Wände des Seins, der Alltäglichkeit, dass groß werde und frei der Blick, so frei, dass der arme Sinn schwindeln musste, und in diesem Schwindel lag eine hinziehende Süße, eine Erregung, die nur einen Schritt, einen einzigen, innehielt vor dem Wandel zu herzklopfendem Glück.
Glück aber bedeutete hier den Gedanken an Schmerz, war Schuld. Wie, wenn nun die Männer nicht zurückkehrten? Dann waren sie gestrandet, die Frauen, würden sich durchschlagen müssen, allein, mit den Wagen … oh, sie hätten das gekonnt, hätten es gemeistert …
Keine unter ihnen dachte so weit. War zu viel Scham unter ihnen, wohl zu viel Liebe auch, die großen Wälle der Gefühle. Und doch war da draußen das Meer der neuen Möglichkeiten aufgewühlt, dass die Wogen herüberspülten, herein in die umwahrte Enge des Gewohnten, dass die Frauen vergehen wollten vor süßer Angst, vor der Ahnung, wie die kleine Geformtheit ihres Lebens zerrissen und zernichtet werden könnte in dem horizontenen Gischt des Daseins, im Weltsturm.
So waren sie nun: standen da, in Lust und Angst den Blick geheftet auf das stürmende Meer, und angefüllt mit Erwartung, Ahnung des Schlages, der da kommen könnte und sie hinausstürzen in die Flut.
War da aber noch eine andere Ahnung, nicht in Inge, auch nicht in der kleinen Hermine, wohl aber in den älteren Frauen: Angst vor der Trauer, dem Schmerz, die kommen müssten mit den Veränderungen; das Wissen, dass Ruhe ein höheres Gut ist als jedes Hochgefühl in der Fülle des Seins.
Resignation? Grand Mère, als die einzige, wusste, dass jeder immer nur das findet, was ihm zukommt … und was ihm zukommt, das kann sich nur entwickeln im Geordneten, im Gemäßen. Wert und Gewicht hat allein das Eigene, dachte Grand Mère, aber die jüngeren Frauen träumten noch von der Großen Befreiung, die ein Geschenk sei von außen, sogar Magdalena trug diese Hoffnung noch in sich …
Torheit, hätte Grand Mère gedacht, wenn es ihr zur Reflexion gediehen wäre, so aber empfand sie nur Missbehagen angesichts der Unruhe, der Aufgeregtheit der anderen Frauen, und suchte zu mäßigen, durch Widerständigkeit, auch Unwillen.
Sie war schon klug, die alte Frau.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 17.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)