Die Schriftstellerei des Scheißvolkes hob sich nur selten hinaus über die behagliche Tiefebene des Mediokren. Erstand kaum einmal ein Dichter unter ihnen, der dem Rest des Planeten etwas zu sagen gehabt hätte.
Kein Unglück. Das Scheißvolk hätte ja das Recht gehabt, die Achseln zu zucken und zu sagen, was interessiert uns der Planet? Das sind unsere Schriftsteller, die sagen uns was, an denen haben wir Freude, in denen erkennen wir uns wieder, und damit muss genug sein.
Reichte dem Scheißvolk nicht. Das Scheißvolk wollte: diese unsere großen Schriftsteller sind nicht mittelmäßig. Sie sind Ereignis. Sie sind Maßstab. Sie sind tiefer als alles, was der Planet sonst hervorgebracht hat. Sie sind musterhaft. Sie haben etwas, was die Schriftstellerei unter anderen Himmeln nicht hat und niemals hatte: unsere Tiefe. Unser Gemüt. Unsere Gefühle. Unsere Kultiviertheit. Unsere unauslotbare Reife.
Zur Zeit des Jungen gerieten die Stiefeltermini in Unbrauch, nicht aber die Denke. Das Scheißvolk beanspruchte selbstverständlich, weil wir die Termini ausgewechselt haben, ist auch die Denke eine andre. War sie nicht. Zur Jugendzeit des Jungen redete man noch ganz selbstverständlich von der Tiefe, später ließ man das und ersetzte den Terminus „tief“ durch den ebenso sinnfreien Terminus „authentisch“. Als das Große an unseren großen Schriftstellern hatte jetzt zu gelten: Die sind authentisch. Als authentisch galt insbesondere das Unvermögen, mit der eigenen Sprache umzugehen. Als authentisch galt die Unfähigkeit, das Handwerkszeug des Schriftstellers zu beherrschen. Wörterbuch und Grammatik benutzen zu können, war nicht authentisch. Als authentisch galten Drucksen und klobige Unbeholfenheit. Würgendes Ringen mit der Syntax, das war authentisch.
Gern wurde auch als Lob verwendet, ein Schriftsteller sei „genau“.
Was soll das bloß bedeuten? rätselte der Junge. Genau? Gemessen an was? Gemessen an welcher Latte?
Als „genau“ galt vor allem stumpfes Stochern nach dem richtigen Wort, das sich nicht einstellen wollte.
Der Junge sah viele Wörter auftauchen und wieder vergehen, die die verlorene „Tiefe“ ersetzen sollten, authentisch und genau und schlüssig und präzise und stringent, und was sonst noch. Hieß alles: wir sind die Großen wir sind die Tiefen, und überhaupt, unseresgleichen ist nicht.
Das kann man ja überhaupt nicht ausdrücken, so tief ist das, hatte schon die Pferdeschnauzige gewusst, und die Authentischen jetzt wussten: All diese abgegriffenen Wörter benutzen, das können wir ja gar nicht, dazu sind wir viel zu authentisch.
Irgendwann lobten sie sich gegenseitig hinterher: Der bringt abgebrauchte Begriffe wieder zum Leuchten!
In einem Wort, man war tief, das war nicht zum Sagen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)