Ereignis

Demnach ereignete sich Begabung keineswegs nur dort, wo sie sich manifestierte. Keineswegs nur in einzelnen Personen, in außerordentlichen Individuen. Begabung war vielmehr ein Fundamental des Scheißvolk, das Scheißvolk fühlte sich als solches begabt. Radikal begabt. Und nur da das Volk als solches begabt war, war auch jeder einzelne Angehörige des Volkes begabt. Dem Scheißvolk anzugehören hieß für Angehörige des Scheißvolks: begabt sein. Ich bin ein Angehöriger dieses begabten Volkes, also bin auch ich begabt. Die draußen alle, die haben das ja gar nicht, die haben nicht diese Begabung, und weil sie die Begabung nicht haben, haben sie auch nicht die Tiefe, denn Tiefe und Begabung, das gehört ja zusammen. Mein Volk ist tief und begabt, also bin auch ich tief und begabt. Wir sind allen da draußen überlegen, was Tiefe und Begabung anbelangt, also bin auch ich allen da draußen überlegen, denn das Wir, das Wir meines überlegenen und reifen und tiefen und hochbegabten Volkes, das ist ganz Ich.

So redeten sie einander zu, in vollem Ernst.

Sie gingen noch weiter, denn wenn sie überhaupt eine Begabung hatten, falls wir das als solche bezeichnen wollen, so war es sture Konsequenz. Nein, Flexibilität war nie Sache des Scheißvolkes. Wenn sich einmal eine Idee festgefressen hatte hinter den niedrigen Stirnen, wurde sie durchgezogen bis zur letzten Konsequenz.

Wenn, so sagten sie, die Begabung eingeborene und zukömmliche Eigenschaft ist des Wir, darf sie auch berechtigter Stolz sein des Wir. Jeder rechtbürtige Angehörige des Wir darf nicht nur sagen: Wir sind tief wir sind begabt! sondern er darf auch sagen: Wir sind stolz auf diese unsere Befindlichkeit. Unsere Tiefe unsere Begabung, die haben wir nicht einfach so, sondern die kommen uns zu verdienstlich.

Jawohl! wusste es im Scheißvolk. Das ist unser Verdienst, dass wir so sind! Jeder, der dem Wir angehört, darf fühlen verdienstlich: Begabung, das ist ganz Wir. Tiefe, das ist ganz Wir. Und die Tiefe und die Begabung, das sind eben nicht nur zufällige Eigenschaften, die dem Wir in den Schoß gefallen sind! Nein! Die Begabung die Tiefe sind Verdienst! Kommen dem Wir verdienstlich zu, und also jedem Ich!

So wie die Unbegabtheit der Anderen schuldhaft ist.

Jawohl. Das wollen die nicht wissen, die Anderen, aber wir sagen es ihnen zu auf den Kopf.

Die Verdienstlichkeit unserer Begabung, und die schuldhafte Unbegabtheit der anderen, das hängt nämlich zusammen, das eine bedingt das andere.

Wie das?

So:

Die haben sich ihre Unbegabtheit selber schuldhaft zuzuschreiben, die Anderen. Denn wenn sie frei und neidlos die Tiefe des Wir anerkennten, dann könnten sie ja teilhaben an der Tiefe! Als Satrapen wenigstens, als Metöken, aber als solche wären sie doch Teil des begabten Wir, als staunende Bewohner der Randländer! Statt dessen wollen sie schuldhaft unsere verdienstliche Tiefe einfach nicht sehen, leugnen wider besseres Wissen unsere Tiefe! Das ist die Schuld! Dieses Abstreiten unserer Tiefe, von der sie doch wissen, die Schuldhaften!

Das ist nun einmal so, wusste es im Scheißvolk, das hat die Natur nun einmal so vorgesehen. Es können doch nicht alle gleich begabt sein! Unter den Menschen gibt es begabte und nicht so begabte, und also auch begabte Völker, und weniger begabte, und ganz unbegabte.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 12.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)