„Wäre er dann schon hier?“ fragte Roger, mit vollem Mund.
„Ja“, antwortete Eramir. „Du musst bedenken, dass von der Silberstadt hierher der Weg flussabwärts führt, eure Ochsenkarren haben zwei Stunden Wegs, doch der schnelle Kahn, vom Strom getragen, bedarf keiner halben Stunde …“
Dies alles war nun in der Tat zu bedenken.
„Und wie sollten wir hingelangen?“ fragte Roger, mit Vorsicht in hypothetischen Formen redend.
„Es gibt eine Brücke“, erklärte Aslan, „ich habe sie gerade selbst gesehen, und auf der anderen Flussseite führt eine Straße zur Silberstadt, wie Bruder Bernhard mir erklärte. Dort könnten wir also mit dem Karren …“
„Doch nicht etwa …“ unterbrach ihn Roger mit Abwehr und Entrüstung, er ließ den Satz unvollendet, es war klar, was er meinte, und Aslan verstand und lächelte, etwas verkniffen.
„Nein“, antwortete er, „ich habe es Bruder Bernhard schon zu verstehen gegeben, dass wir unsere Tiere der Gefahr nicht aussetzen können, und habe seinen Beifall und seine Billigung gefunden … nicht wahr …“
Bernhard nickte mit Ernst Zustimmung, ohne Aslan zu unterbrechen.
„Dies Haus besitzt selbst einen Wagen, für die Heuernte“, fuhr Aslan fort, „und auch ein Pferd, wenn ich recht verstanden habe.“
Er lehnte sich zurück, als habe er nun alles gesagt, was irgend zu diesem Thema zu sagen wäre.
Magdalena blickte ihn prüfend an, aus etwas verschleierten Augen, und meinte dann: „Es scheint, als sei es auch dein Wille, die Silberstadt aufzusuchen und sich um das Geschick des Sammlers Henri zu bekümmern?“
Aslan hatte die Hände im Schoß gefaltet und blickte versonnen in die Tischplatte hinein; dann sagte er, ohne die Augen zu heben: „Nicht recht wäre es von uns, Hilfe zu verweigern, wo wir sie geben können. Auch bin ich selbst der Sohn eines Sammlers, es drängt mich, die Umstände dieses Henri kennenzulernen, dort in der Silberstadt … und wohl würdig ist unserer Hilfe das Haus Bruder Bernhards, rein ist seine Gastfreundschaft und ohne Fehl und Falsch …“
Er legte in diese letzteren Worte einen Nachdruck, bei dem sich jeder denken konnte, was er wollte.
„Ihr sollt unsere Gäste sein, so lange ihr wollt“, wiederholte Bernhard, was er schon zu Aslan gesagt hatte. „Gute Weide steht bereit für eure Tiere, und Ruhe wird gut tun euch Frauen und Kindern … auch können wir handeln in Ruhe und Muße …“
„Oh ja!“ rief die kleine Hermine und blickte verliebt lächelnd Waldemar an. „Bleibt doch hier, wir können spielen draußen … ich zeige euch alles …“ Sie war wirklich noch ein Kind, aber auch Elvira schien der Gedanke nicht übel zuzusagen, den weitgereisten Frauen Haus und Küche und Garten zeigen zu können, begierig war sie auf ihr Lob und ihre Worte, und wie selten traf es sich ja auch, dass Gäste kamen, Abwechslung bringend, neue Richtung der Rede …“
Grand Mère blickte voll Bedenken. „Willst du denn selbst mitfahren, mein Sohn?“ fragte sie. „Bedenke, dass dein Bein geschont werden muss …“
„Er kann auf dem Wagen sitzen bleiben“, sagte Bernhard mit Eile. „Versteht, wichtig ist uns sein Rat, mehr hat er von der Welt gesehen als jeder andere von uns, leiten soll er die Unternehmung, dass sie gelinge und Gefahren vermieden werden … du bist doch auch dieser Meinung, Eramir, mein Sohn?“
„Ja“, gab Eramir zu, „sicher ist es von Vorteil, sich der Leitung eines so erfahrenen Mannes anzuvertrauen … ich brauche dann nur den Weg zu weisen …“
Nicht viel zu sagen war gegen dies alles, vorausgesetzt …
„Nur so weit nähern wir uns, wie es ohne Gefahr möglich ist“, erklärte Roger, „ist noch Feuer da, oder wir sehen sonst Zeichen, die bedenklich machen können, so kehren wir um, nicht ist doch dem Sammler Henri gedient, wenn ein Unglück uns selbst zustößt.“
„Ja, das denke ich auch“, stimmte Eramir zu.
Die Frauen schüttelten die Köpfe und hatten Angst, Wahnsinn war es, sich dem Tier der Silberstadt zu nähern, auch wenn es zu schlafen schien …
„Gestern noch wolltest du fort so schnell wie möglich“, sagte Magdalena vorwurfsvoll zu Aslan, „heute zieht es dich hin … bedenkt, auf was ihr euch da einlasst, in welche Gefahr ihr euch begebt …“
Aber es nützte nichts, da steckte noch anderes hinter Aslans Bereitschaft, Tieferes als nur der Wille zu helfen, und die Männer am Tisch spürten es, ihre Pulse gingen schneller, die Augen leuchteten, sie redeten kurz und knapp, verständigten sich über die nötigen Vorbereitungen, und waren erfüllt von einer Erregung, der fast Freude beigemischt schien.
Gefahr, das war es. Die leuchtende Spannung der Gefahr, die verzehrende Lust, sich vorzuwagen, weiter und noch weiter, und die Hand noch ein atemloses Stückchen auszustrecken, dem Tier entgegen, und noch erwachte es nicht, man spürte schon den Flaum seiner Mähne unter den ausgestreckten Fingern, und nicht immer gelang es nicht, innezuhalten, wie ein Zwang war es, die Situation auf’s Äußerste zu treiben, auszumachen, wo dieses Äußere steckte, sich verbarg, bis man hineintrat in die kühlen Hallen der Notwendigkeit, und Schicksal aufschien, groß und gelassen, vernichtend oder beiseite werfend, nach unerforschlichem Ratschluss …
Sie spürten Leben in sich, schnell wachsend, kräftiger, als sie’s zu Zeiten der Ruhe und Gleichmäßigkeit je zu spüren vermochten, und übermächtig wurde der Wunsch in ihnen, noch mehr dieses Lebens zu erfahren, immer mehr, zu erfahren, wie sich eine Kraft in ihnen entfaltete, der das kleine Einzelleben nur aufgesetzt war, blinder Drang, große, gleichgültige Welle, ungeheuer in ihrer flutenden Macht …
Die Frauen blickten verwirrt und beunruhigt, halb auch eifersüchtig, es senkte sich etwas wie eine gläserne Wand zwischen sie und ihre Männer, sie spürten, dass keine Vorstellungen dringen würden durch diese Wand, keine Bitten auch und kein Zorn und Grollen, sie fort, weit fort, die Männer, in einer Welt, in die Frauensinn nicht dringen kann.
Also Aslan, Roger, Eramir und Oswald.
Und Bernhard?
Er wurde abgewiesen, ganz einfach abgewiesen. Zu alt, zu kraftlos. Zunächst saß er starr, als ihm dies mitgeteilt wurde, in höflichen und verblümten Worten, doch unzweideutig, dann suchte er zu widersprechen, mit Gründen und Behauptungen, und schließlich musste er sich fügen.
Die vier Männer planten ein Unternehmen, und alles Störende, wohl gar Gefährdende hatte auszuscheiden.
Als Bernhard nachgab, geschah es eigenartig schnell, er mochte seine Gründe haben, gleichwohl fiel es den Kaufleuten auf, und später erinnerten sie sich daran.
„Ich bin nicht einverstanden“, sagte Grand Mère, schwer den Kopf wiegend, „doch hindern will ich euch auch nicht.“
Und Magdalena sah Aslan an und weinte.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 07.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)