Glaubenmachen

Nein, der Junge brauchte keine Historiker, um zu wissen, die Hohe Frau, die war ein Stiefel.

Taschenrede, die war Stiefelrede.

Schließlich, die Pferdeschnauzige setzte ihm täglich den Stiefel direkt ins Gesicht, wie also hätte er das nicht wissen sollen?

Und wiewohl er es wusste, begriff er es nicht. Nicht, da er noch ein Kind war, und Kind, das blieb er ziemlich lange. Eigentlich bis kurz vor seinen Toden.

Er begriff die viehische Brutalität nicht, die den Kern ihrer Persönlichkeit bildete. Sie war Hochstaplerin, wie alle Taschen Mützen Stiefel, und aus dem Punkte des Hochstaplertums erklärt und kuriert sich alle weitere Befindlichkeit der Leuchterwesen. Sie war Hochstaplerin, und alle Hochstapler leben vom Niederwalzen ihrer Opfer. Der Hochstapler kann es sich gar nicht leisten, auf die Einstellungen und die Gefühlslagen seiner Opfer irgendwelche Rücksicht zu nehmen. Die könnten ja unbeeindruckt bleiben! Die könnten ja anfangen zu fragen! Niedergemacht müssen die werden! Plattgewalzt! Vor allem dürfen die erst gar nicht zum Nachdenken kommen, gar nicht erst zum Atemholen, wenn die anfangen nachzudenken, bin ich schon halb verloren. Überrumpeln muss ich die, im Blitzkrieg überrennen ihre Gelände, dann hab ich schon halb gewonnen! Wenn die erst mal am Boden liegen, dann kann ich denen sogar wieder aufhelfen, in meiner Güte in meiner Versöhnlichkeit, dankbar werden die dann noch sein, und sich selber anklagen, wie sie mich denn je verkennen konnten!

Ich war doch ihr Sohn, dachte der Junge, widerborstig, aber beachtet den Gebrauch des Präteritums. Ihr Kind! Wie konnte die so gewissenlos sein? So viehisch brutal? Wieso hatte die eine so unverhüllte Freude daran, mich zu verletzen?

Alle Hochstapler haben Freude daran, ihre Opfer zu verletzen. Die Opfer sollen nicht nachdenken, sie sollen hochbeten. Hochbeten zu der Figur, die der Hochstapler gibt, da oben auf der Bühne, auf dem Laufsteg. Würde der Hochstapler auch nur für einen Augenblick innehalten, so müsste er sich ja selber fragen: Was tu ich da eigentlich? Warum mach ich das? Warum tu ich denen das an? Aber das darf nicht sein. Für den Hochstapler ist alles Geander Verfügungsmasse, die hat zu klatschen und zu akklamieren und das Anbot des Hochstaplers durch Zustimmung zu bestätigen. Personen? Kommen diese anderen dem Hochstapler als Personen in den Blick? Wär ja noch schöner. In der Welt geht es nur um eine Person, nur und eine einzige, und das ist der Hochstapler selber. Fühlt er seinen Betrug bedroht, kennt der Hochstapler kein Erbarmen kein Mitleid keine Reue keine Bedenken. Das einzige was er fühlt, mit unbeirrbarer Dringlichkeit, das ist: Den jetzt niedermachen! Den jetzt niedersiegen! Den jetzt glauben machen!

Glauben machen den Bengel, dass er ein Stück Dreck sei. Glauben machen den Bengel, dass er keine Gefühle habe. Glauben machen den Bengel, dass er sowas von unreif sei. Glauben machen den Bengel Tag und Nacht, dass er sich für sich selber schämen müsse. Glauben machen den Bengel, dass er ein wandelnder Belästiger sei. Glauben machen den Bengel, dass all sein Tun und Denken und Handeln eine windige Belästigung sei. Glauben machen den Bengel, dass all dieses, dies sein Belästigen und diese seine Unreife und diese seine Fühllosigkeit, glauben machen den, dass all dies von ihm schuldhaft zu verantworten sei. Glauben machen den Bengel, dass er schuldig sei. Glauben machen den Bengel, dass sein Atmen eine Belästigung sei. Glauben machen den Bengel, dass er eine wandelnde Peinlichkeit sei. Glauben machen den Bengel, dass er sich schämen müsse. Glauben machen den Bengel, dass er sich schämen würde Tag und Nacht, wenn er nur einmal sich selber sähe, wie er wirklich ist. Glauben machen den Bengel, dass er nur einmal sich selber hören müsste, wenn er redet, dann würde er vor Scham ins Grab sinken. Glauben machen den Bengel, dass er nur einmal sich selber zusehen müsste, dann würde er sich vor Peinlichkeit winden als wie im Schraubstock. Glauben machen den Bengel, dass seine Dummheit unauslotbar ist. Glauben machen den Bengel, dass er das alles ja gar nicht versteht, die Gefühle! Glauben machen den Bengel, dass er die Gefühle deshalb nicht versteht, weil er ja keine hat. Glauben machen den Bengel, dass er nicht wert ist zu atmen, in Gegenwart von sowas Herrlichem wie Fwau. Glauben machen den Bengel, dass er das ja alles gar nicht versteht, was er da angeblich liest. Glauben machen den Bengel, dass ein wirklich Gebildeter ja nur lachen könne, über dem sein Lesen. Glauben machen den Bengel, dass er ja keine Ahnung hat, was das wirklich ist, Bildung! Glauben machen den Bengel, dass er ja keine Ahnung hat, was das wirklich ist, kultiviert! Glauben machen den Bengel, dass man das ja alles längst durchschaut hat, sein kindisches Prahlen und Wichtigtun. Glauben machen den Bengel, dass man das ja alles längst durchschaut hat, sein angebliches Lesen. Glauben machen den Bengel, dass er sich damit ja nur wichtigmachen will. Glauben machen den Bengel, dass er ja bloß Eindruck schinden will. Glauben machen den Bengel, dass er ja bloß beachtet werden will. Glauben machen den Bengel, dass er ja bloß bewundert werden will. Glauben machen den Bengel, dass man ihn ja bloß aus Mitleid ab und zu reden lässt. Glauben machen den Bengel, dass man ja bloß aus Mitleid ab und zu so tut, als ließe man ihn gelten. Glauben machen den Bengel, dass man ja alles längst wisse, was er da erzählt. Glauben machen den Bengel, dass man ja all die Fremdsprachen längst könne, die er da zu lernen vorgibt. Glauben machen den Bengel, dass man ja längst alles viel besser wisse, womit immer er ankommt. Glauben machen den Bengel, dass man über ihn nur den Kopf schütteln kann. Glauben machen den Bengel, dass er überall zum Gespött sich macht. Glauben machen den Bengel, dass die Reifen und Kultivierten überall unmerklich die Augenbrauen hochziehen, wenn er bloß den Raum betritt. Glauben machen den Bengel, dass er die Ironie nicht bemerkt, mit der die Reifen und Kultivierten seinem Geschwätz zuhören. Glauben machen den Bengel, dass er ich seiner Tumbheit die Blicke nicht bemerkt, die sich die Reifen und Kultivierten zuwerfen, sobald er auftaucht. Glauben machen den Bengel, dass die wirkliche Kenner über seine Lektüre nur lachen können. Glauben machen den Bengel, dass sie über ihn reden. Glauben machen den Bengel, dass sie sagen, man muss sich nur die Bücher anschauen, die der für gut hält, das sagt schon alles. Glauben machen den Bengel, dass sie dabei lachen.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 04.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)