Die Pferdeschnauzige lobte die tiefen Gefühle einer abwesenden Person, irgendeiner, einer Bühnenperson, einer Person, die auf dem Laufsteg glänzte im Licht, und die Botschaft an den Jungen war: Die hast du ja gar nicht, diese Gefühle. Du bist der, der unten in der Finsternis sitzt. Du bist Publikum du bist Zuschauer. Um dich geht es doch gar nicht. Es geht um die da oben auf der Bühne, um die im Licht. Im Licht der Bühnenscheinwerfer. Du darfst zugucken und bewundern, sei doch froh, dass du das überhaupt darfst. Stück Dreck. Du darfst staunend und bewundernd klatschen, aber wenn du klatschst, bitte an der richtigen Stelle. Nicht einmal das kannst du richtig. Stück Dreck.
Ihr seht, ihr Bild von der Welt war ganz einfach, und es stimmte immer. Es entsprach in seiner Struktur passgenau dem Stiefelbild von den Falschrassigen und den Richtigrassigen, dem Taschenbild von den sauberen Frauen und den schmutzigen Männern, dem Mützenbild von den lichten Befreiern und den finsteren Unterdrückern, in einem Wort, dem Leuchterbild von den Lichtwesen der Zukunft und den Dunkelwesen der Vergangenheit.
Der Pferdeschnauzigen teilte sich die Welt einfach in die Lichtwesen, die auf der Bühne agierten im Glanz, und den dumpfen Dunkelwesen unten im finsteren Zuschauerraum. Laufstegmodell. Die Finsteren durften bewundern und glotzen und klatschen, und die Lichten standen wissend und überlegen im Licht und sahen träumerisch hinweg über die Köpfe ihrer Bewunderer, hinaus in fühlvolle Fernen, nur ihnen sichtbar. Sie schauten die Fernen, sie schauten die Tiefe, und die Fernen und die Tiefe drückten sich aus in ihrem Bespielen der Bühne, in ihrem Bespielen teilte sich etwas mit von den Fernen der Tiefe, und dafür hatten die dumpfen Klatscher doch dankbar zu sein! Das hatten die doch anzuerkennen! Aber die wirkliche Tiefe, dies alles zu verstehen, die hatten die Finsterwesen nicht. Sie hatte diese Tiefe, sie, die Pferdeschnauzige. Sie verstand. Sie fühlte. Sie fühlte mit.
Eigentlich, eigentlich müsste sie da oben stehen, auf der Bühne, auf dem Laufsteg. Ihre Tragik ihre Verkanntheit hatten das verhindert. Mann hatte das verhindert, der Mann, der ihr das Kind gemacht hatte, und der Mann, der jetzt als ihr Kind ihr um die Beine wuselte. Belästiger beide allzumal. Tägliche Belästigung. Belästiger aus existenzieller Befindlichkeit. Sie aber, die Pferdeschnauzige, sie hatte sich erhoben über alle Widerstände. Sie stand nicht auf der Bühne nicht auf dem Laufsteg. Nein. Sie stand darüber. Hoch über der Bühne stand sie, hoch über dem Laufsteg. Als Kennerin als Wisserin als Beurteilerin. Für sie fand es statt, für sie allein, all dies Bespielen der verschiedenen Bühnen, sie aber saß in unnahbarer Überlegenheit und urteilte.
Das war ihr Teil. Überlegen zu fühlen und zu urteilen, heraus aus ihrer unerschöpflichen Tiefe, heraus aus dem Mitschwingen ihrer unauslotbare Gefühle.
Irgendwie primitiv, irgendwie kunstvoll, ich sagte das schon, und so kam es, dass der Junge lebenslang zusammenzuckte, wenn die Worte Kultiviertheit Reife Gefühle erklangen, er wurde das nicht los.
Was soll das eigentlich sein, Kultiviertheit? dachte er erbittert, während die Höllenmaschine vor ihm ihre Bühne bespielte und sich mitten im Essen „eine anzündete“ und tragisch den Kopf in den Nacken warf. Ausbildung, belastbare Kenntnisse? Zum Beispiel Sprachkenntnisse? Ein sorgfältig erlerntes Handwerk?
Nichts davon. Für die Pferdeschnauzige drückte sich Kultiviertheit aus in langfingriger Posenbereitschaft, sie hielt ihr Fuchteln mit der Zigarette für kultiviert. Es war Fuchteln auf der Bühne, Fuchteln vor Publikum, Fuchteln vor Zuschauern. Etwas können, das war nicht kultiviert. Das Können darstellen, das war kultiviert!
Kultiviert strich sie die Asche ab des Glimmstängels am Aschenbecher, der immer auf dem Tisch bereitzustehen hatte. Kultiviert knipste sie am Feuerzeug. Kultiviert strich sie den Rauch durch die Nüstern. Rieb sich mit der flachen Hand den Nacken, während sie mit träumerischem Blick am Kopf des Jungen vorbeisah. Versonnenes Lächeln. Ruhige Überlegenheit.
Ich bin kultiviert, sagte der vorbeisehende Blick, und du bist der letzte Dreck. Gefühle, sowas hast du ja gar nicht. Du bist ja sowas von unreif, und du wirst immer unreif bleiben, denn du bist ein Mann, der letzte Dreck.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 02.03.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)