Fingerspitzen

Übrigens gab die Pferdeschnauzige sich nie die Blöße, unverhüllt von ihrer eigenen Kultiviertheit ihrer eigenen Reife ihren eigenen Gefühlen zu prahlen. Sie nahm Umwege. Führte dem Jungen Lichtgestalten vor Augen, Laufsteggestalten, und gab ihm mit solcher Demonstration zu verstehen: die das Licht, du der Dreck. Du kannst diesen Glanz ja gar nicht verstehen.

Sensibel lobte sie an Künstlerinnen Schriftstellerinnen allgemein an Hohen Frauen, wie diese kultiviert seien bis in die Fingerspitzen, oder eben reif, oder wie sie eben diese Gefühle hätten, diese Gefühle in ihrer Unauslotbarkeit, und durch ihr Lob gab sie zu verstehen, dass sie selber, die Lobende, und nur sie allein, vermöge ihres Anteils nämlich an der Reife der Kultiviertheit den Gefühlen, all diese Dinge zu verstehen imstande sei.

Ich verstehe das. Du hast doch keine Ahnung.

Ich fühle das. Du fühlst ja nichts, dumpfer Klotz.

Ich erkenne diese Tiefe. Bei dir predigt man ja tauben Ohren.

Wenn man zu dir redet, könnte man ebenso gut gegen die Wand reden.

Ach ja, bitte, dachte der Junge, rede doch zur Wand, die hört dir bestimmt geduldig zu, und lass mich in Ruhe.

Dies war die Lieblingstechnik der Pferdeschnauzigen. Sie lobte Abwesende, und beleidigte mit solchem Lob die Anwesenden.

Der knochigen Katze war das egal, solange sie nur ihre blutige Lunge bekam, Schlachtabfall, aber der Junge wusste, ich bin gemeint, und irgendwie kam er nicht darüber hinweg.

Das Teil, das da auf der anderen Seite des Tisches saß und von der Reife und den Gefühlen schwadronierte, war unstrittig seine Mutter. Biologisches Faktum. Er war aus diesem Ofen gekrochen, und sonderbarerweise dachte er oft daran, wie sie, Mädchen noch, in den Wehen gelegen haben müsse, schreiend und blutend, und wie er endlich, auf den letzten Pressdruck, als schleimig blaues Bündel aus ihr herausgeflutscht war. Aus ihr, so wie sie da vor ihm saß. Wie war das möglich? Wie war das möglich, dass solche Deszendenz des lebendigen Fleisches keine Gemeinschaft stiftete zwischen ihnen, zwischen Mutter und Sohn, die sie doch waren? Sie waren ein Fleisch. Es war ihm nicht egal, was sie von ihm dachte. Er würde dahin kommen, dass es ihm egal sein würde, eines Tages, aber damals, in dieser frisch bezogenen Küche, die noch nach Farbe und nassem Mörtel duftete, damals war er noch lange nicht so weit. Sie hatte niemanden mehr in der Welt, den sie zudröhnen konnte mit ihrem Geschwätz, jedenfalls in Abwesenheit der Grimmvettel, aber die Wahrheit ist, er hatte auch niemanden, mit dem er hätte reden können. Niemanden in der ganzen Welt. Nicht einmal seinen Teddybären, denn den hatte sie, wie erinnerlich, zusammen mit den Entenheftchen beim Umzug in die Tonne getreten.

Die brauchst du ja nicht mehr.

So saß er der rodomontierenden Fleischmaschine gegenüber, die seine Mutter war, und ließ sich von ihr als Folie ihres Größenwahns missbrauchen, ließ sich missbrauchen als Publikum, starrte sie an, halb angstvoll, halb fasziniert, und wartete.

Wartete worauf?

Er wusste es nicht.

Niemals fragte sie. Niemals ließ sie auch nur einen Schatten von Interesse an seiner Existenz erkennen. Hätte sie gefragt, er wäre ausgewichen. Die Türen zu alten Zeiten, da er noch klein gewesen war, ganz klein, und sich auf Fragen vielleicht geöffnet hätte, die waren längst zugefallen, unwiderruflich, jetzt ging es ihm nur noch darum, zu schützen und zu bewahren, was von ihm übrig war.

Unwiderruflich, das bildete er sich jedenfalls ein. Die Pornoprinzessin würde kommen und alle verschlossenen Türen seines Innen weit aufreißen, und sie würde hineinschreiten in seine Gelände. Er würde sehen, was er davon hätte.

Einstweilen hatte er die Pferdeschnauzige, und im Hintergrund all seiner Gedanken tanzte die Sylphide, Blond und Silber und Wind und Himmelsbläue, und die Pferdeschnauzige bespielte ihre Bühne, und der Junge, ihr Junge, war ihr Publikum.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 28.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)