Brücke

Bernhard hatte ihn bis zum Ende des Steges geführt, hart heran an die Flussmitte; und nun sah Aslan, dass hier eine kräftige Strömung herrschte, es zeigten sich die keilförmigen Flutlinien, die häufig entstehen, wenn das rasche Fließen der Strommitte sich reibt an den wenig bewegten Flachwassern der Ufer.

„Es wird nicht immer leicht sein, hier mit dem Kahn zu fahren“, sagte Aslan, in’s Wasser hinunterblickend.

„Stromaufwärts entsteht Mühe den Ruderern“, stimmte Bernhard zu, „bei Hochwasser ist’s besser zu warten, bis sich die Fluten verlaufen haben …“

Aslan nickte, lehnte sich bequem gegen das Geländer und blickte hinüber zur Silberstadt.

Frei lag die Wasserfläche vor ihm, ausgedehnte Schilfwiesen zeigten sich auf der gegenüberliegenden Uferseite, doch keine Weidengebüsche, die den Blick hätten versperren können.

Lange spähte Aslan, und endlich zeichneten sich helle Formen ab in dem vergehenden, hinschmelzenden Nebel: Türme und blinkende Kugeln und graziles Gestänge, das war die Silberstadt.

Die Rauchsäule war verschwunden.

„Es scheint alles ruhig“, murmelte Aslan.

„Ja“, antwortete Bernhard, der ebenfalls seine Augen anstrengte. „Alles ruhig … aber ich mache mir Sorgen, große Sorgen …“

Aslan wusste, was er meinte, er dachte an den Sammler Henri und seine Familie, aber er sagte nichts, es war Sache Bernhards, sich mit Bitten oder Vorschlägen zu äußern.

„Dreh dich doch einmal um“, sagte Bernhard.

Aslan gehorchte, mit einem fragenden Blick. Er drehte sich um und sah flussabwärts, erst schaute er zu tief über die Wasserfläche und erkannte nicht, was Bernhard meinte, dann hob er den Blick und erstaunte.

Es trat aus dem Nebel über dem Fluss hervor wie ein ruhendes Tier, voll Macht und großer Kraft, grauer Doppelschwung der Form, schweigend.

Leise ummurmelte das Wasser seine Füße, netzte sie kaum; über den Rücken aber trieben die Nebelschwaden des Morgens, dass die Nässe glänzte auf dem metallenen Körper.

„Die Brücke …“ rief Aslan voll Staunen.

Ja, das war die Brücke, getragen von drei Pfeilern, einer mitten im Strom, und die Brückenfläche gehalten von dem kunstvollen Gegitter zweier Doppelbögen, die erstreckten sich von einer Seite zur anderen.

„Ein großes Bauwerk ist das“, sagte Aslan mit Ehrfurcht, „eines von den Werken Vautrins, die feststehen in der Zeit …“

„Ja“, nickte Bernhard, „so ist es … und dort drüben“ – er wies mit ausgestrecktem Arm – „verläuft die Nordstraße, über die Brücke sind wir mit ihr verbunden; doch gibt es auch eine Abzweigung nach Osten, immer am Flussufer entlang … die führt zur Silberstadt …“

„Aber wo ist die Straße auf unserer Seite?“ fragte Aslan. „Es muss doch auch eine Straße Vautrins geben, nicht nur den Fahrweg, den wir gekommen sind.“

„Jaja“, antwortete Bernhard, „die gibt es auch, doch viel weiter landeinwärts; sie ist aber nicht zu befahren … du wirst ihre Einmündung finden, wenn du zur Brücke hinaufgehst.“

„So ist das …“ murmelte Aslan nachdenklich vor sich hin. Trotz der Nähe der Silberstadt hatte sich Bernhard hier keinen üblen Platz  zur Siedlung ausgesucht, der Kaufherr musste es zugeben.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 27.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)