IHR Blick

Alle Leuchter, gleich ob Stiefel ob Tasche ob Mütze, alle Leuchter wussten: der Mensch ist wichtig, der Mensch ist zentral. Und wer sagt das? Wir sagen das, die Menschen. Der Mensch sagt, der Mensch ist wichtig. Das ist die Selbstermächtigung, wussten die Leuchter.

Der Massenmord ist die logische Folge. Denn wenn die Wichtigkeit des Menschtiers nur darauf ruht, dass es sich selber diese Wichtigkeit beimisst, so kann es sich ja jederzeit ebendiese Wichtigkeit auch wieder absprechen. Wer wollte das Menschtier hindern an solchem Beschluss? Gibt keine Instanz mehr über dem Menschtier, in solcher Viehdenke. In der Viehdenke der Leuchter ist die Denke des Menschtiers inappellabel. Letztes Wort. Das ist die Überzeugung aller Leuchter, aller Taschen aller Stiefel aller Mützen. Der Mensch hat das letzte Wort. Und weil das Menschtier nach Leuchterentscheid das letzte Wort hat, kann es jederzeit mit dem Finger zeigen, auf dieses Menschtier auf jenes, auf diese Gruppe auf jene, auf die Menschen dieser Hautfarbe und Herkunft, oder jener. Auf die Bewohner dieses Kontinents hier, auf die Bewohner jenes Kontinents dort. Und es vermag zu sagen, das Menschtier, in seiner Selbstermächtigung: He, ihr da! Lebensunwertes Leben! Putzt die Platte!

Und wenn die sich nicht freiwillig vom Acker machen, diese Menschtiere mit der zweifelhaften Lebensberechtigung, dann hilft das nach eigener Entscheidung, nach Maßgabe seiner eigenen Selbstermächtigung lebensberechtigte Menschtier eben ein bisschen nach. Mit der Knarre mit der Spritze mit der Gaskammer mit der Genickschussanlage mit der Abtreibungsklinik. Oder Truppen losschicken, einen cordon sanitaire legen um bezeichnete Gebiete, vorher alle Lebensmittel rausholen, dann nichts und niemanden mehr raus- oder reinlassen, und nach Ablauf eines Jährchens oder so mal nachschauen. Inzwischen haben sie drinnen erst die Katzen und Hunde, dann die Vögel vom Himmel, die Rinde von den Bäumen, das Gras aus dem Straßengraben, dann die Leichen der Toten aufgefressen. Da ist das lebensberechtigte Menschtier wirklich angewidert. So sind die, die Lebensunwerten!

Das Menschtier ist aber nicht wichtig auf Grund seiner eigenen Entscheidung. Das Menschtier ist wichtig, weil SIE es ansieht. Weil SIE es bei seinem Namen ruft und sagt: Du, mein Kind. Weil SIE auf Grund IHRES unbegreiflichen Ratschlusses entschieden hat, in dem Herzen eines jeden Menschwesens zu wohnen.

So tut SIE. Und weil SIE so tut, ist das Menschtier unantastbar, ist das Menschtier von uneinholbarer Wichtigkeit. Jedes einzelne Menschtier. Keinem Menschtier kommt das Recht zu, über Wert und Unwert menschlichen Lebens zu rechten, nicht einmal des jeweiligen Menschwesens selber.

Keinem Menschwesen ist verstattet, von seinem eigenen Leben zu sagen: Mein Leben ist nichts wert. Es lohnt sich nicht, dass ich auf der Welt bin.

Wie?

Es lohnt sich nicht, dass du auf der Welt bist?

Da SIE dich doch gewollt hat? Da SIE dich doch geschaffen hat? Da SIE dich doch anschaut und bei deinem Namen ruft?

Wenn aber einem Menschtier nicht einmal verstattet ist, über den Wert und Unwert seines eigenen Lebens zu urteilen, wie sollte es dann urteilen dürfen über das Leben anderer?

Zu solcher Vermessenheit, Vermessenheit des Urteils über das Leben anderer, verstiegen sich die Leuchter, verstiegen sich Taschen und Stiefel und Mützen.

Sie haben ihren Lohn schon gehabt.

SIE aber regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit, und aus IHREM Munde allein kommen die gültigen Sätze.

Deswegen forschen wir diesem Idiotendünkel des Menschtiers nach, das alle Menschheit und alle Menschlichkeit unversöhnlich in antagonistische Lager teilt, Lager von Richtigen einerseits und Falschen andererseits, von Lichten und Finsteren, deswegen richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese lächerliche Küche in dieser ganz entlegenen Provinz von Zeit und Raum, wo dieses eine Menschwesen, das wir nach den Vorgaben ihres Sohnes die Pferdeschnauzige nennen, sich spreizt in der schwellen Überzeugung, ich bin richtig, ich bin ein Lichtwesen, ich bin tief, ich habe diese Gefühle, ich bin reif und kultiviert, und draußen gibt es die Finsterwesen, die haben all dieses nicht, die sind mir Feinde, denen bin ich Feind, und die müssen endlich zur Einsicht kommen, zur Einsicht in meine Größe, zur Einsicht in ihre Niedertracht.

Als Minderwesen, als Finsterer und Falscher saß mit am Küchentisch der heranwachsende Junge, stand zur Verfügung der Pferdeschnauzigen als Mann als Abfall als Stück Dreck, und dem hielt sie die tägliche Taschenpredigt. Taschenpredigt überkommen unverhüllt, aber selbstverständlich abgestritten, aus selbsterlebter Stiefeldenke.

Diese Fwau ist sowas von kultiviert! ist sowas von reif! hat diese unauslotbaren Gefühle! wusste es in der Pferdeschnauzigen, und sie schlug sich mit der Hand an die Stirn, will sagen mit den zusammengeführten Fingerspitzen, und schrie: Versteht das überhaupt einer?

Es war niemand da, der hätte verstehen können oder müssen, nur der Junge und die knochige Katze, die durften als gemeint sich betrachten.

Sie waren die, die nicht verstanden.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 26.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)