Hahnenkraht

Bernhard nahm Aslan bei der Hand und führte ihn hinunter zum Fluss, das war nicht weit, am Haus vorbei, dann mussten sie nur noch den Fahrweg überqueren und einem kurzen Pfad zwischen den Weiden folgen, der war sauber ausgehauen und festgetreten.

Führte geradewegs zum Landungssteg.

„Sieh an“, sagte Aslan, als sie heraustraten aus dem Weidengebüsch und den Fluss offen vor sich hinströmen sahen, „weit habt ihr den Steg anlegen müssen …“

Der Fluss war an dieser Stelle breit, so breit, dass man infolge des Morgennebels das andere Ufer nicht erkennen konnte. Auf die ziemlich steile Uferböschung, in die die Uhrmacher fünf steinerne Treppenstufen gefügt hatten, um sie bequemer passieren zu können, folgte eine weite Flachwasserzone mit ruhiger, gleichmäßiger Strömung, kaum gab es Wellenschlag, nur die charakteristischen kreisförmigen Aufstrudelungen traten immer wieder auf, wie man sie bei flach bewegtem Wasser häufig sieht.

Erst zur Mitte hin wurde der Fluss tiefer, und dort war offenkundig auch die Strömung schneller, an manchen Stellen mochte sie nicht ungefährlich sein; der Flussgrund bestand aus glattgeschliffenen Kieseln, farblos unter den blassen Morgenwassern.

Man konnte bis weit in den Fluss hinein waten, ohne sich allzu nass zu machen, so flach waren die Ufergründe.

Infolgedessen hatte der Landungssteg mit entsprechender Länge gebaut werden müssen, und das war es, was Aslan gemeint hatte.

„Ja“, antwortete der alte Uhrmacher und runzelte die Stirn, „große Mühe hat uns das verursacht, und bietet ein fortdauerndes Problem …“

Aslan nickte, das konnte er sich denken. Es war bestimmt nicht erst einmal geschehen, dass bei Hochwasser Teile der Anlage weggerissen worden waren.

Der Nebel begann sich zu heben, über der grauen Flut, doch war der rosige Schimmer im Osten schon wieder verschwunden. Es würde wohl ein verhangener Tag werden: aber regnen würde es nicht, glaubte Aslan voraussagen zu können, und Bernhard pflichtete ihm bei.

„Gehen wir hinaus“, fragte er.

„Warum nicht“, meinte Aslan, und sie betraten den Steg.

Der war einfach gefügt und schmal, nur zwei Holzbohlen breit, zur rechten Seite besaß er ein Geländer, oder besser gesagt einen Handlauf. Der rohen Konstruktion entsprach eine Bescheidenheit der Ausführung, die Aslan wohl bemerkte.

Er äußerte sich aber nicht, beugte sich statt dessen über das Geländer und sah hinunter in den Fluss. Klar und kühl das Wasser, und dunkel. Die faustgroßen, rundgeschliffenen Kiesel lagen algenbewachsen, ein Zeichen, dass der Fluss lange ruhig gewesen war, in stetem Gleichmaß der Strömung, ohne die Steine merklich zu wenden, so hatten die einfachen Pflanzen sich ansiedeln können.

Bei schärferem Hinsehen erspähte Aslan blasse Fischrücken im Wasser, die standen reglos in Schwärmen zu zehn oder fünfzehn, nur manchmal zuckte ein einzelnes Tier den Schwanz, blitzkleiner Ruck.

„Schleie“, erklärte Bernhard. „Hermine fängt sich manchmal welche und setzt sie in den großen Wassertrog hinter dem Haus und füttert sie; nach ein paar Wochen bekommt sie es dann satt und lässt sie wieder frei …“

„Tatsächlich?“ fragte Aslan und lachte. Das war dem runden Kind wohl zuzutrauen, dass sie mit Fischen spielte.

Vom Haus her ertönte schallend die Hahnenkraht, dass es über dem Wasser wiederhallte, über dem Wasser, das jetzt von den Morgennebeln schon ganz befreit war.

„Eramir hat den Hahn rausgelassen“, erklärte Bernhard.

Die Sache war die, dass der Hahn Robert ein blödes Vieh war. Er war so von Stolz geschwellt über den Besitz seines Harems, dass er vom ersten fernen Morgenlicht bis weit nach Sonnenaufgang durchzukrähen pflegte, kein Mensch vermochte es auszuhalten; anherrschen fruchtete nichts, zumal das wehrhafte Tier seinen Platz mit Flügelflattern und Schnabelhieben behauptete. So lockte ihn Eramir jeden Abend mit Körnern in einen breiten, doch niedrigen Verschlag, so niedrig, dass der Hahn sich nicht darin emporrecken konnte, was er jedoch, mit Körnerpicken beschäftigt und deshalb mit dem Kopf am Boden, nicht sogleich bemerkte; und Eramir klappte eiligst die Tür des Verschlages zu.

Nun weiß jedermann, dass Hähne beim Krähen sich so weit emporrecken wie möglich; daran gehindert, von der Niedrigkeit ihrer Unterkunft zu Boden gedrückt und geduckt, unterbleibt auch die Kraht, zerknirscht und erniedrigt hockt das Tier und muss warten, bis ihm die Tür in’s Freie geöffnet wird.

So wurde auch mit dem Hahn Robert verfahren, und brav ließ er sich jeden Abend, in unermüdeter Dummheit, in seinen Verschlag locken, und ward wieder herausgelassen am Morgen erst, wenn alle schon aufgestanden und beschäftigt waren; dann begann er zu krähen und das Versäumte nachzuholen.

Aslan lachte und schüttelte den Kopf, als Bernhard ihm das erzählte; wunderlich waren die Beziehungen, die Menschen und Tiere eingingen an den festen Orten, nach Vautrins Willen, wohl immer nach Vautrins Willen …

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 25.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)