IHRE Gründe

So wurde das Laufsteg-Modell über Jahrhunderte zum Lebensentwurf der Millionen. Kannst Glanzwesen sein hier oben auf dem Steg, im Licht, kündete das Modell, oder Finsterwesen im Dunkel.

Die Glanzwesen oben auf dem Steg hatten Angst rund um die Uhr, dass die Finsteren sich erheben und sie vom Laufsteg runterziehen würden. Die Glanzwesen hatten aber auch Angst rund um die Uhr, dass sie vielleicht von den anderen Glanzwesen einen Tritt in den Arsch bekommen würden, so dass sie hinunterpurzeln müssten zwischen die Finsteren, um dort ihr schäbiges Leben zu fristen, bis zu seinem schnellen Ende.

Leben ist nur hier oben, im Licht des Steges! Das war der Ruf, und das Menschtier folgte ihm über die Jahrhunderte, und redete sich ein in vollem Ernst, es sei im Besitz wunder welcher Tiefe, mit den umgehängten Gedankenlappen um die Schultern.

Und das war ja das Versprechen. Häng dir die Lappen um, dann bist du einer von uns, einer von den Lichten. Musst die Lappen gar nicht selber zuschneiden, die werden dir passend geliefert, tritt bei uns ein, kommst als erstes in die Kleiderkammer, ein passender Lappen ist für dich gefunden im Hui, und schon bist du groß! Bist ein Lichtwesen! Ein Leuchter ein Stiefel eine Mütze eine Tasche!

Ist mir klar, dass all dies euch lächerlich vorkommen muss. Richtet euch darauf ein, dass das Gebaren des Menschtiers, aus gebührendem Abstand betrachtet, fast immer putzig daherkommt. Ist der Abstand genügend groß, entfaltet selbst der Massenmord Komik. Seht, wie sie übereinanderpurzeln, die wichtigen Zwerge, die einen schmeißen die anderen in die Massengräber und schütten Erde drüber, und dann gehen sie weg und antworten auf Zuruf: Was? Wir doch nicht! Das waren wir nicht! Wer sagt denn sowas?

Und sie leugnen und streiten ab und schütteln die Köpfe, wiewohl sie doch alles unter IHREN Augen taten.

Wiewohl SIE doch jeden Täter und jedes Opfer bei seinem Namen ruft.

Wiewohl doch SIE selber tausendfach starb in den Massengräbern.

Denn im Herzen eines Menschwesens, da SIE wohnt, im Herzen eines Menschwesens, das IHR treu bleibt und IHR Wohnung gibt, bleibt SIE bis zum Schluss und bis zum letzten Augenblick, und leidet alles Leiden dieses Menschwesens mit.

Der Lederflüglige, wenn es ernst wird, der macht sich vom Acker.

Wenn es nur an dem Menschwesen wäre, sich wichtig zu nehmen, säßen wir nicht hier. Hätten wir nicht unseren Auftrag. Könnte uns ja egal sein, was das Menschwesen von sich selber hält. Soll es sich ruhig wichtig nehmen, könnten wir sagen und aus weiter Distanz zusehen, wie sie übereinander herfallen und umeinanderpurzeln und sich gegenseitig verschlingen. Das Schauspiel würde schnell langweilig werden, und wir würden weiterziehen, ferneren Universen entgegen.

Aber so ist das nicht. Wohl, das Menschtier nimmt sich wichtig, aber das ist nicht das Problem. SIE nimmt das Menschtier wichtig. Da fängt unser Auftrag an. SIE misst dem Menschtier Bedeutung zu, jedem einzelnen. Jedes einzelne Menschtier ist IHR von unermesslicher Wichtigkeit. SIE hat das so entschieden. Es kommt uns nicht zu, da nachzufragen. Wer wollte die Impertinenz besitzen, SIE nach IHREN Gründen zu fragen. SIE hat IHRE Gründe, und IHRE Gründe sind der Antrieb unseres Eilens. So einfach ist das.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)