Viele Reisewege führen durch die Nacht; da sind Träume und Wünsche, und Erbarmen, und weiterhoffte Zärtlichkeit. Welterhoffte Zärtlichkeit.
Gesprächig war Bernhards Haus: murmelte in allen Ecken, knisternd die Balken, knackend die Bohlen.
Und sachtes Rieseln vom Fluss, wolkengedämpft, die Wolken waren ein Milchgarten, in dem flossen die Wege hauchumhüllter.
[…]
Immerhin, in dieser Nacht gelang es Inge.
Sie hatte einen Verband im Gesicht, und Roger musste vorsichtig umgehen mit ihr, vielleicht war es gerade das, was ihn versöhnlich stimmte, jedenfalls, er tat es, sie brachte ihn dazu.
[…]
Bernhard war ein alter Mann, der schlecht schlief und nicht mehr wohl essen mochte, oft lag er wach des Nachts und grübelte, alte Phantome suchten ihn heim, rührten die Gedankenmaschine, bis er stöhnte, die hämische Mühle, das fruchtlose Klappern.
Dann war er froh, wenn der Morgen graute, und er aufstehen konnte, mit guter Hoffnung auf die Regsamkeit des Tages. Er war meist der erste, der sich rührte in dem hölzernen Haus, schlich behutsam und leise durch den Korridor, über die knackenden Bohlen, deren empfindliche Stellen er kannte und mied, lauschte wohl auch einmal nach den gleichmäßigen Atemzügen der Schläfer. Bald nach ihm würde Eramir aufstehen, und Elvira mit ihm, die würde das Frühstück besorgen, und die kleine Hermine würde ihr helfen, wenn sie denn aus dem Bett zu bekommen war, immer gelang das nicht so einfach, Hermine und Oswald waren noch jung, da schläft man gern lange und scheut das frühe Morgenlicht.
Aber bevor einer von diesen sich erhob, war Bernhard schon hinausgetreten auf die morgendliche Terrasse, hatte Ausschau gehalten nach dem Wetter und den frühen Bemerkungen des Tages, und wenn er zurückkam in den Korridor und Eramir begegnete, so pflegte dieser, nach den üblichen Redensarten des Morgens, zu fragen: „Und wie sieht es aus, heute?“, und Bernhard wusste Antwort zu geben.
Wusste Antwort zu geben über den Himmel und die Wolken und die ferne Ankunft der Sonne, und über die Antwort der Erde, die milchigen Nebel der Frühe, oder das Flüstern gleichmäßigen Morgenregens in den Blättern.
Manchmal, wenn Bernhard sehr früh erwacht war, noch im allerersten Morgengrauen, oder vielleicht gar nicht geschlafen hatte, ging er hinunter zum Fluss, fröstelnd, eine Wolldecke um die Schultern, wie es alten Leuten geziemt, und schritt hinaus auf den Landungssteg, wo sich das Boot auf den Wellen wiegte, bei jedem Zug des Halteseils knarrend wie eine alte Tür.
Der Fluss, der Fluss am frühen Morgen! Wie grau und leise die Wellen waren, Bernhard konnte es kaum verstehen. Sie spiegelten nicht wider, glitzerten nicht, war da nur ein einförmig bewegtes Fließen, drehend und wendend von Wellental zu Wellental, und war da ein Wort über dem Fluss, das lautete: immerfort, immerfort.
Wer das sieht, der wünscht sich den Schlaf, so sehr, und will doch nimmer kommen.
Heute aber hatte Bernhard geruht zu guter Stunde, lang und unterhaltend waren die Geschichten gewesen des gestrigen Abends, hatten leicht hinübergeführt in das Dämmer und die behaglichen Verstrickungen der Träume, das ist ja das Gute an den Geschichten, dass sie die Träume hinüberrufen in den Tag und die heimlichen Gedanken der Nacht dem Wissen versöhnen …
Also hatte Bernhard lang und tief geschlafen, und war ausgeruht erwacht, hatte sich gestreckt unter seinen Decken und geräkelt und gedacht, dass er schon lange nicht mehr eine so gute Nacht verbracht habe.
Dann fiel ihm der Sammler Henri ein.
Er runzelte die Stirn im Dunkeln (die Läden hingen vor den Fenstern, ließen das graue Morgendämmer nicht hereindringen; nur an den Rändern, wo die Fugen nicht ganz dicht abschlossen, war ein Riss aus Helligkeit zu erahnen) und dachte, es müsse das Beste sein, erst einmal hinüberzublicken zur Silberstadt, wie die Lage sich entwickelt habe seit der Nacht.
Er erhob sich also, kleidete sich rasch an und tastete sich den dunklen, knarrenden Korridor hinunter zur Eingangstür.
Draußen aber fand er bereits Aslan stehen. Der lehnte an dem Pfosten neben der Treppe und schaute hinaus in die grauen Morgennebel, schaute hinüber zur Silberstadt, genauso, wie Bernhard zu tun vorgehabt hatte.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)