Im Prinzip könnte man solche Denke als Laufsteg-Denke bezeichnen. Euer Weg wird euch noch in die Metropolen der Menschtiere führen, da stelzende Wesen auf beleuchteten Stegen neu geschneiderte Kleider vorführen. Kleider sind Kleider, doch das Menschtier freut sich daran, jedes Jahr neue Lappen auf dem Leib zu tragen, in neuen Farben, in neuem Schnitt. Die Schneider sind kreativ, aber ihr versteht, die Kleider müssen getragen werden können, in der Straßenbahn, bei der Arbeit, oder auf der Party. Das Menschwesen hat einen Kopf und zwei Beine und zwei Arme, und einen Rumpf, der all diese Auswüchse zentriert. Die Kleider müssen sich an dieser Grundgegebenheit orientieren. Der Rahmen einmal akzeptiert, ist der Einfallsreichtum der Schneider unerschöpflich, und auch hier gilt: sie können nur anbieten, die Massen entscheiden selbst, ob sie zugreifen oder nicht. Warum sie diesen Vorschlag der Schneider einleuchtend finden und jenen überhaupt nicht, das zu ergründen, ist noch keinem Menschtier gelungen. Der Junge, unermüdlich, suchte auch hier nach Literatur, fand keine. Die wesentlichen Fragen wurden nicht beforscht. Die Frage nach dem Kleiderwandel und nach der Akzeptanz des Wandels war die gleiche Frage wie die nach dem Kulturwandel. Warum setzte sich in den weiträumigen Hallenkirchen zur Zeit der Bündelpfeiler plötzlich mehrstimmiger Chorgesang durch, innerhalb weniger Jahre über den ganzen Kontinent?
Gab keine ernstzunehmende Antwort.
Wie auch immer, wenn die Schneider zweimal im Jahr ihre neuen Kollektionen vorstellten, hängten sie ihre Erfindungen jungen Menschtieren um die Schultern, die sie Models nannten. Diese Wesen hatten keine andere Aufgabe, als hinauszuschreiten mit starrem Gesicht auf beleuchtete Laufstege und die neuen Kleider, mit denen sie angetan waren, vorzuzeigen. Und dabei möglichst nicht zu stolpern, denn sich auf dem Laufsteg auf die Schnauze zu legen, galt als größter anzunehmender Unfall für ein Model. Model zu sein war ein ungemein begehrter Beruf. Kein Wunder. Geistige Vorgänge gleich welcher Art waren bei Ausübung dieser Tätigkeit nicht nur überflüssig, sondern geradezu gefährlich, sie lenkten vom nächsten Schritt ab. Ein Job, der praktisch von Schwachsinnigen erledigt werden kann! Da wird dem Menschtier warm ums Herz.
Die Models schritten auf den Laufsteg in glanzumkleideter Erhabenheit. Höhere Wesen. Übermenschen. Ringsum ihnen zu Füßen die hinaufstarrenden Bewunderer, in der Dunkelheit ihrer Gräben. Sie oben im Licht. Erhaben hinwegschauend über die glotzenden Köpfe. Die Bewunderung gar nicht bemerkend. Umkleidet mit Stoffen, die sie nicht selbst zugeschnitten hatten, die aber ihre Übermenschlichkeit bestätigten. Sie waren die im Blick, sie waren die Angeschauten. Sie waren die, die niemanden anschauten und von allen angeschaut wurden. Und sie mussten nicht mehr tun, als erhaben über den Steg zu schreiten.
Ihr versteht das Prinzip. Die Denke mit den Finsteren und den Lichten, das war Laufsteg-Denke. Die Welt perennierend geteilt in die Glanzwesen, die lichterbestrahlt durch die gleißenden Räume der Beachtung schlendern, und außerhalb der Lichtkegel die Finsterwesen, hilflos glotzend.
Und ein Lichtwesen war einer kraft der Tatsache, dass er die richtigen Lappen um die Schultern trug, will sagen, die richtigen Gedankenlappen, die Stiefeldenke die Mützendenke die Taschendenke, alles nicht von ihm selber zugeschneidert, alles nur getragen und vorgeführt, mit erhabenem Fernblick weg über die Köpfe der Staunenden, der Finsterwesen.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 20.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)