Die Pferdeschnauzige war aufgewachsen mit den einschlägigen Sätzen, es waren keine Sätze, über die man nachdachte im Scheißvolk, es waren Sätze, vor denen man niederkniete. Standen als Weiser an jeder Wegkreuzung, die Sätze, dass kein Angehöriger des Scheißvolkes etwa unsicher werde über die Richtung.
Unser Volk ist kultiviert, sagten die Sätze, die anderen haben nur ihre geschäftsmäßige Zivilisation. Wir sind reif, wir stehen auf den Höhen menschlichen Seins, wir sind durchwaltet von Reife von Erhabenheit, die ganze Tiefe die ganze Tragik der Welt des menschlichen Seins, das ist uns alles urvertraut, das ist uns Auftrag und auch Bürde, die tragen wir willig, in unserer Reife. Kein anderes Volk trägt so das Wissen um die Tragik und die Erhabenheit mit sich herum wie unseres. Das ist unsere Reife. Wir haben diese tiefen Gefühle, wir haben die Tiefe. Unsere Gefühle sind so tief, dass wir uns oft genug verschließen, jawohl, kalt und hochmütig wirken wir, aber das sind wir nicht, wir verschließen uns nur, weil wir um die Verletzlichkeit unserer Gefühle wissen, weil wir die Tiefe unserer Gefühle schützen müssen. Davon wissen die anderen ja nichts, das können die anderen gar nicht verstehen! Unsere Gefühle! In der Tiefe unserer großen Musik, da dürfen wir unsere Gefühle ausdrücken, aber wir sind, die diese Gefühle haben und sie ausdrücken in großer Kunst, die anderen nehmen dann unsere Werke und verdienen daran, das sehen wir und nicken wissend und werden dennoch nicht bitter, denn wir wissen, das ist unsere Aufgabe in der Welt, das ist unsere Bürde in der Welt, die tiefen Gefühle zu haben und um die tiefen Gefühle zu wissen und sie zu gießen in große Werke, groß, wie die Welt nie sie sah. Ja. So sind wir.
Es war erst lange nach den Toden des Jungen, dass Historiker, einige davon Schüler des Brillanten, die offenkundige Motivgemeinschaft zwischen Taschendenke und Stiefeldenke zu erforschen begangen. Der Junge brauchte keine historischen Studien, um zu wissen: Stiefel und Taschen, das ist doch dasselbe.
Er wusste das seit seinen frühesten Tagen, er hatte die Pferdeschnauzige.
Sie saß ihm gegenüber am Abendbrottisch und wusste und prahlte und schwoll. Predigte von ihren Gefühlen und ihrer Reife und ihrer Kultiviertheit.
Von unseren Gefühlen und unserer Reife und unserer Kultiviertheit würden nachher die Taschen predigen.
Von unseren Gefühlen und unserer Reife und unserer Kultiviertheit hatten zuvor die Stiefel gepredigt.
Aber bei dem Schwelgen in Gefühlen und Reife und Kultiviertheit blieb es nicht konnte es nicht bleiben. Nicht bei der Pferdeschnauzigen nicht bei den Taschen nicht bei den Stiefeln. Das Schwelgen allein genügte nicht. Da fehlte noch was. Die leuchtenden die prangenden Farben die Pracht der Gefühle der Reife der Kultiviertheit konnten so recht zur Geltung kommen erst vor düsterem Hintergrund. Vor schwarzschattendem Nachtgewölk. Auch das Leuchten des Regenbogens kommt zum Glänzen ja erst vor dem Hintergrund der abziehenden Gewitterwolken.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 16.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)