Ratlos

„Bleibt bei uns“, sagte Elvira, „nächtigt hier, und morgen können wir handeln, denn wir freuen uns, euch Kaufleuten ansichtig zu werden, nötig zu kaufen ist uns einiges.“ Die i-Laute fielen zu Boden wie Splitter, an denen man sich schneiden konnte.

„Natürlich“, antwortete Roger. „Mein Vater Aslan zögert, weil ihn  die Nähe der – der Silberstadt beunruhigt.“

Aslan, der zu Boden geschaut hatte, blickte auf, es war etwas Störrisches um ihn, und er bestätigte: „Ja, das ist es. Ich begreife nicht, dass ihr hier wohnt … schon ein Schade und Leichtsinn ist, dass der Weg so nahe vorbeiführt an – an Vautrins fremder Schöpfung, die Folgen mussten wir heute dulden, unsere Tiere brachen aus in ihrem Schrecken und verletzten uns, und Gnade Vautrins war, dass kein größerer Schade entstand … Nun siedelt ihr euch hier an, so nahe, dass die Flammenlohe euch ergreifen könnte, schwer fällt es mir, das zu verstehen …“

„Aber so sei doch vernünftig, Bruder Aslan“, rief Bernhard aus und legte ihm die Hand auf den Arm. „Es wohnen ja Leute in der Silberstadt!“

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Aslan diesen Satz verstanden hatte, und dann wandte er sich ab und schüttelte den Kopf.

„Aber das ist doch nicht möglich“, sagte Roger bestürzt. „Das muss ein Missverständnis sein …“

„Nein“, rief die kleine Hermine weinend, „dort lebt wirklich … eine ganze Familie …“ Und ihr Mann Oswald legte tröstend den Arm um ihre Schultern.

Grand Mère zog scharf die Luft zwischen den Zähnen durch, und Aslan wandte sich wieder um und fragte: „Was sind das für Leute?“

Er hatte die Frage an Bernhard gerichtet, aber an dessen Stelle antwortete Eramir: „Henri, der Sammler … er lebt dort am Flussufer mit Frau und Kind, und ein junges Mädchen ist noch dabei …“

„Ein Sammler?“ fragte Roger, der nicht gleich verstand. „Aber was kann er sammeln in der Silberstadt?“

Eramir blickte über die Wagen und die Büsche hinweg nach der Glutsäule, die sah aus, als spähe und lausche sie in heimlichem Groll, und antwortete: „Nicht in der Silberstadt, dort wohnt er nur … er hat einen Kahn, fährt täglich hinein in die Stadt, durch die müsst auch ihr euren Weg genommen haben … dort sammelt er …“

Also doch, dachte Aslan.

„Und er wohnt in der Silberstadt, mit seiner Familie?“ fragte Magdalena, mit Entsetzen.

„Ja“, antwortete Eramir einfach.

Aslan drehte sich um, humpelte ein paar Schritt zurück zu den Ochsen, die immer noch eingeschirrt standen, geduldig wartend, die schwarzen Ochsenaugen spiegelnd im Licht, das aus den Fenstern drang; dann wandte er sich zurück, kam wieder herbei, mit fahrigen Bewegungen, und fragte, rau und voll Zorn: „Aber wieso?“

„Warum nicht“, antwortete Bernhard, mit vorgetäuschtem Phlegma. „Viele Städte hat Vautrin geschaffen, und alle sollen sie die Menschen bevölkern …“

„Diese nicht“, unterbrach ihn Grand Mère. „Nicht zu bewohnen sind die Silberstädte, jeder weiß es, Gefahr droht von ihnen, Tod wohl gar … schau doch nur hin …“ Und sie wies mit ausgestrecktem Arm nach der Glutsäule, am östlichen Himmel.

„Aber was ist nun mit … mit … wie hieß er?“ fragte Roger.

„Henri“, antwortete Eramir. “Das wissen wir ja nicht, wir sind in großer Sorge …“

„Habt ihr deshalb hier gestanden und Ausschau gehalten?“

„Ja, wir nahmen an, dass er sein Boot besteigen und mit seiner Familie hierher rudern würde, wir kennen uns ja gut …“

Wenn er noch lebt, dachte Aslan düster.

„Und im Übrigen ist dies ein guter Ort“, sagte Bernhard, und sich zu verteidigen. „Die Straße führt vorbei, und weiter nach Westen zu gibt es große Städte, da viele Menschen wohnen … und eine Brücke ist auch hier.“

„Hier? Eine Brücke?“ fragte Aslan. „Und sie ist zu befahren?“

„Oh ja“, antwortete wieder Eramir an seines Vaters Stelle, „gut und solide hat Vautrin sie gebaut.“

„Die in der Stadt ist zerbrochen“, warf Inge ein, immerfort etwas nuschelnd, der Schlag oder Druck auf die Nase hatte auch ihre Lippen zum Schwellen gebracht, so dass sie das Gefühl darin verloren hatte.

„Ja, aber erst vor Kurzem“, erwiderte Eramir, „doch war das kein Schade, sie führte nirgendwohin, nur auf die andere Seite der Stadt, und deren hat sich ja schon der Fluss bemächtigt, kein guter Ort ist das …“

„Und diese hier?“ fragte wieder Roger.

„Drüben auf der anderen Seite ist ein Straßenanschluss, der führt nordwärts, vielbefahren ist er …“

„Wir wollen weiter nach Paris“, meinte Roger halb fragend. „Da müssen wir doch sicher auf dieser Seite des Flusses bleiben, weiter westwärts?“

„Ja“, erwiderte Eramir, „soso, nach Paris wollt ihr, ein weiter Weg ist das noch …“

„Dann habt ihr den gleichen Weg, den gestern erst unser Besucher nehmen wollte“, fiel Elvira ein. „Über die Brücke kam er, von Norden her, auf schnellem Einspänner, mit einem hellen Pferd, wie ich nie eines gesehen habe …“

Die Vokale fielen zu Boden wie ein feiner Regen von gläsernen Splittern, und Roger lauschte ihnen nach, den Kopf auf die Seite gelegt, als träume er, so dauerte es eine Zeit, bis er den Inhalt dessen, was sie gesagt hatte, verstanden hatte.

„Was?“ fragte er. „Ein Besucher? Auf einem Einspänner, von hellem Pferd gezogen?“

„Ja.“

„War das etwa ein Maître, von der ehrwürdigen Sorbonne?“

„Aber ja!“ rief Eramir. „Was ist, kennt ihr den Mann?“

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 11.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)