Also schrie es im Scheißvolk.
Wir sind so vorbildlich in unserer Betroffenheit, dass wir sogar das Recht haben, den davongekommenen Anderen und ihren Nachfahren zu sagen, jawohl, denen frei und offen ins Gesicht zu sagen: Ihr seid auch nicht besser! Denn wäre die Sache umgekehrt abgelaufen, ihr die Täter und wir die Opfer, ihr hättet euch kein bisschen anders verhalten! Das müsst ihr euch doch mal gesagt sein lassen, von uns, aus unserer vorbildlichen Betroffenheit heraus! Und ihr macht ja auch nicht alles richtig, das wird man doch wohl noch sagen dürfen! Auch ihr müsst euch erinnern lassen, an die Menschenrechte zum Beispiel! Für die treten wir ein, da empören wir uns, wenn die mit Füßen getreten werden, ihr seid da nicht immun, bloß weil diese Sache damals passiert ist! Bloß weil diese Sache damals passiert ist, mit den Gaskammern das, bildet euch bloß nicht ein, ihr seid deswegen jetzt unberührbar! Da tragen wir gern die Fahnen von euren Gegnern als Halstücher, damit ihr mal seht, wie objektiv wir sind, in unserer Betroffenheit! An Moral lassen wir uns von niemandem übertreffen.
Sie waren und blieben Unrat, moralisch verfault bis ins Mark.
In jeder seiner Schulklassen hörte der Junge die Predigt: Unsere Kultur, die Kultur unseres begabten Volkes, die ist was ganz Besonderes. Die unterscheidet sich von den Kulturen der anderen, da draußen.
Die anderen, da draußen, die haben eigentlich gar keine Kultur, die wohnen bloß in ihrer jeweiligen Zivilisation. Wie einer in einer Mietwohnung haust, moderner Nomade, heute da morgen dort, überall zu Hause und also nirgends. Zivilisation, das ist was Kaltes, Mechanisches, Eingerichtetes. Was Zugerichtetes. Zivilisation, das ist etwas, was man sich nach Belieben umhängt. Was man sich zurechtschneidert und auch wieder ändert und vielleicht sogar abtut. Wie es einem gerade in den Kram passt. Beliebig. Wie es die neueste Mode will. Wie es die Reklame gerade will.
Kultur aber, das ist was Echtes, Wüchsiges. Das kommt aus der Tiefe, das ist viel größer als wir alle. Das ist Wurzelgrund! Das nährt uns das trägt uns, das hält uns warm und geborgen. Das fordert uns auch! Das ist uns Anspruch und Vermächtnis und Aufgabe! Das ist Geschenk, aber oft genug ist es auch Last! Erfüllen können wir das gerecht werden können wir dem oft nur ächzend! Das ist ursprünglich, das kommt aus der Überlegenheit unseres tiefen Gemüts, aus dem Born unserer Rasse. Das könnten wir gar nicht ändern, selbst wenn wir wollten. In den Werken unserer Großen, vor allem in unserer unsterblichen Musik, spricht sich das aus! Mit Macht, mit Vollmacht! In den Großen Werken unserer Großen Toten, die keineswegs Tote sind, sondern Unsterbliche, in diesen Werken schwingt etwas wie der Klang einer gewaltigen Glocke, ein Vibrieren, das hört ihr nirgendwo auf Erden sonst!
Mit „den Großen“ hatten sie es besonders. Unsere großen Dichter, unsere großen Komponisten. Das macht uns keiner nach, da kann im Grunde keiner mit. Nur wir selber. Weil wir eben die Tiefe haben!
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 08.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)