Inge saß alleine auf dem Kutschbock, Roger lief ja vor den Wagen, und Grand Mère saß bei Magdalena und Aslan … sie spähte immer wieder nach der Seite, als versehe sie sich nichts Guten, und wirklich war die Nacht so finster, so undurchdringlich … sie konnte von ihrem Platz aus die Feuersäule nicht sehen, aber sie meinte, das Grollen zu hören, auch durch das Rumpeln und Quietschen der Wagen und das gleichmäßige Trappen der Ochsenhufe, und zweifellos drang da ein rötlicher Schimmer durch die Lichtlosigkeit, das war eine Übergossenheit der Nacht, blutig und glutvoll, ohne sie doch zu erhellen … hoch, riesenhoch war das Gewölbe der Finsternis, und das rot darin war wie die Schmerzen gepeinigten Fleisches: wie wenn sich der Kopfschmerz durch den Schädel bohrt und man die Augen schließt und in der herzklopfenden Schwärze noch eine zuckende Fläche von Rot wahrnimmt, die treibt als entfalteter Schleier durch die Sümpfe des Bohrens und Stechens, ein Kopf, eingeschlossen in eine Schraubzwinge, und die dreht sich und presst, enger und enger …
Inge jappte nach Luft, als sich plötzlich Eluard neben ihr rührte.
„Du bist es!“ sagte sie aufkeuchend und legte die Hand auf’s Herz. „Du hast mich vielleicht erschreckt …“
„Ja“, sagte Eluard und kletterte zu ihr auf den Kutschbock, nicht besonders auf ihre Worte achtend. „Wir haben der Katze einen Namen gegeben …“
„Ach wirklich?“ fragte Inge interessiert, nahm die Zügel in die linke Hand und zog mit der rechten Eluard an sich heran, „wie heißt sie denn?“
„Lili!“ antwortete Eluard mit Nachdruck, und fügte hinzu: „Das war Waldemars Idee.“
„Lili …“ wiederholte Inge nachschmeckend. „Gar nicht schlecht. Lili, Lili … wo … sag mal, hieß so nicht das kleine Mädchen … damals … in Dieterichs Haus?“ Sie sagte „damals“, dabei war es gerade erst drei Tage und zwei Nächte her, dass sie Dietrichs Haus verlassen hatten, und der Mann hatte „Dietrich“ geheißen, nicht „Dieterich“.
Zuviel Gewicht hatte Vautrin in die Tage gelegt, Waldemar hatte schon recht mit seiner Klage.
„Ja“, antwortete Eluard, „sie hieß Lili, und so soll jetzt die Katze heißen.“
„Nicht schlecht“, wiederholte Inge, erfreut darüber, dass sie Gesellschaft hatte. Sie schlang den Arm um Eluards Schultern und küsste ihn. „Das war ein hübsches Mädchen, nicht wahr?“ sagte sie.
„Oh, hübsch …“ meinte Eluard unbestimmt, darauf hatte er eigentlich nicht geachtet … oder doch? Blaue, träumerische Augen, und die seidenblonden Haare … und dann war da noch die Puppe, die sie immer an ihre Brust gedrückt hielt, das war ihre bezeichnendste Geste …
Eluard fühlte einen Stich im Herz, den verstand er nicht, und er nickte und sagte: „Ja, sie war hübsch.“
Aha, dachte Inge.
„Ich muss gleich wieder zu Waldemar“, sagte Eluard, „ich glaube, er fürchtet sich allein da hinten.“
„Bleib noch ein bisschen bei mir“, bat Inge. „Mir ist auch unheimlich, weißt du, so dunkel ist die Nacht, und dann der Schein von dem Feuer …“
Eluard sah sie an von der Seite, er erkannte nur undeutlich ihren Umriss, aber in ihrem Gesicht leuchtete ein hellerer Fleck, und er erinnerte sich, dass Grand Mère ihr hatte eine Kompresse auflegen müssen, sie hatte sich an der Nase verletzt …
„Tut das arg weh?“ fragte er.
„Ja“, antwortete Inge traurig. „Es klopft und pocht … ich weiß gar nicht, wie das passiert ist. Ich glaub, ich hab versucht, unter Roger zu kriechen, als ich vom Wagen runtergesprungen war … da muss ich mit dem Gesicht auf den Boden gekommen sein, in die Erde …“
Sie schwieg, und begann zu grübeln, über ihren Mann Roger … Eluard blieb still sitzen, an sie gelehnt, ihren Arm um seine Schultern, und sagte auch nichts.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 05.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)