Tief

Es war eine alte Rede im Lande des Scheißvolks, die sagte: Wir sind tief.

Tief.

Unser ist ein Gemüt so tief, so innig und inniglich, so rein auch, so aus dem Quell schöpfend, so zart gleichzeitig! dass die draußen es gar nicht nachvollziehen können. Die draußen jenseits der Grenzen, und die draußen jenseits unserer Tiefe.

Ja, ob einer wahrhaft zu uns gehört, das offenbart sich daran, dass er sich zu unserer Tiefe bekennt. Die Tiefe bekennt und erkennt nur, wer an ihr Anteil hat. Wer sie abstreitet, der sieht sie eben nicht der hat sie eben nicht.

Einfach.

Die Tiefe ist nichts, was man von außen so einfach sehen kann. Die Tiefe hat man entweder, oder man hat sie nicht. Und wenn man sie nicht hat, sieht man sie auch nicht.

Das Scheißvolk hielt sich für einzigartig begabt. Als Volk, als Gemeinschaft. Wir sind begabt, sagten sie, und das Wort war zur Kinderzeit des Jungen allgemein im Schwange.

Begabt.

Begabt zu sein, das war was.

Wenn einer sagte, wir sind begabt, dann meinte er damit: Uns eignet eine besondere, nicht wiederholbare und nicht auszulotende Qualität. Uns. Uns allen gemeinsam, und demzufolge auch jedem Einzelnen, insofern der ganz Wir ist, insofern der wirklich einer von uns ist. Einer von uns, einer von hier, einer ganz Wir.

Und einer, der also ganz Wir ist, der darf sprechen mit freiem Sinn und freier Stirn: Als Angehöriger eines begabten Volkes bin auch ich begabt. Ich habe Anteil an der Begabung. Meine Begabung beglaubigt sich dadurch, dass ich die Tiefe nachfühlen kann. In die Tiefe hinunterfühlen. In die Tiefe und die Wärme unseres Gemüts. Unserer Gefühle. Das haben die anderen ja alles gar nicht. In die Tiefe hinunterfühlen kann ich nur deshalb, weil ich Anteil habe an dieser Tiefe. Ist ja logisch. Indem ich unserem Volk die Tiefe bezeuge, bezeuge ich gleichzeitig meine eigene. Da können die anderen die Fremden die Falschen lange sagen, wo ist denn eure Tiefe, zeigt sie uns doch! Die zeigen damit nur, dass sie die Tiefe nicht haben, denn wer sie hat, die Tiefe, der sieht sie sofort, der fühlt sie, und wer sie nicht sieht und nicht fühlt, der hat sie eben nicht. Das ist so einfach wie das Einmaleins. Ist ja logisch.

In Wahrheit wissen die Anderen die Fremden die Falschen sehr wohl, dass da was ist. Richtig nachvollziehen richtig verstehen können sie das nicht, aber sie merken schon, in diesem Acker ist ein Schatz vergraben, nach dem können sie buddeln solange sie wollen, sie werden seiner nicht teilhaftig.

Sie merken das, sie wissen das ganz genau, und deshalb hassen sie uns. Hassen sie uns mit Inbrunst, wie die Niedrigen die Unbegabten die Finsteren allezeit die Lichten hassen die Begabten die Hochbegabten.

Wir sind die Hochbegabten unter den Völkern, und also sind wir die Gehassten. Wir sind den Fremden den anderen den Falschen der Spiegel, was sie sein könnten was sie sein müssten, was Mensch sein kann. Sie sehen das, und werden blind vor Wut, denn sie haben es nicht, und sie wissen das.

Nun könnten sie uns ja anschauen und unsere Größe sehen und ruhig verehren, was sie nicht haben. Wozu sie sich niemals aufschwingen könnten. Einfach unsere Tiefe gelten lassen! Unsere Begabung! Dazu fehlt ihnen aber die Größe, dazu sind sie zu klein. Denn die Größe anderer anzuerkennen, das verlangt ebenfalls Größe, dazu braucht es Größe, die haben die nicht. Wir haben diese Größe. Wo immer sich Tiefe und Begabung zeigt in der Welt, wir haben sie neidlos anerkannt, wir haben sogar noch darauf aufmerksam gemacht! Schaut einmal, haben wir gerufen ganz frank und frei, schaut einmal, wie schön! So wurden wir für alles Schöne und Gute auf dem Erdball Mittler, so wurden wir Fürsprech alles Guten und Schönen, oft genug waren wir überhaupt die Ersten und lange Zeit Einzigen, die ein Gutes und Schönes überhaupt erkannten und anerkannten!

Ist uns das etwa gedankt worden?

Mit Hass haben sie uns überzogen, mit übler Nachrede und Verachtung, kleinzuhalten uns haben sie versucht, weil sie den Anblick unserer Begabung unserer Tiefe unserer Größe nicht ertragen konnten. Überlegen begabt sind wir, und wenn an der Wissenschaft in anderen Ländern was gut und groß ist, so ist es meistens von uns abgeschrieben. Selbst die Wörterbücher und Lexika haben die ja von uns abgeschrieben! Oft genug haben wir denen überhaupt erst ihre eigenen Schriftsteller nahegebracht, so dass sie die recht erkennen konnten. Oft sind die eigenen Musiker von denen erst auf dem Umweg über unser Land berühmt geworden, berühmt bei denen selber! Und vollends die Werke der alten Zeit, die Schriften überkommen aus der Frühzeit des Kontinents, die sind nur in unsere Sprache recht übertragbar, nur wir haben für die das volle Verständnis, und bei den Fremden, da haben die Einsichtigen das immer auch gewusst, und aber sie haben es nur verdruckst einbekennen mögen, weil nämlich das Eingeständnis unserer Größe das Eingeständnis der eigenen Nivelliertheit bedeutete. Immer!

So sind wir die Begabten die Tiefen, die Herolde aller Kultur auf dem Planeten, und zugleich die Gehassten.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 04.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)