Leuchterdenke

In Wahrheit gibt es zwischen Stiefeldenk und Taschendenk und Mützendenk gar keinen Unterschied, ich habe das ausführlich dargelegt. Und all die Höhe und Tiefe, so die Pferdeschnauzige ihr eigen dachte, und in deren vermeintlichem Besitz sie schwoll, die erbte sich her in gerader Folge aus genuinem Stiefeldenk, und Stiefeldenk war genuine Leuchterdenke. Infolgedessen würde der Junge all diesem Schwelgen in Tiefe und Kultiviertheit und Reife später wiederbegegnen, erneut würde es ihm ins Gesicht gehauen werden, all das Schwellen und Schwallen und Schwelgen, von den neuen und alten Stiefeln nämlich, ihr ahnt schon, im Laden des mallen Alten.

Ich sagte, die Stiefel stritten ab, das Scheißvolk stritt ab. Aber das ist nichts Besonderes. Das Menschtier im Allgemeinen ist ja abstreitendes Tier, wenn und insofern nämlich es steht unter der Botmäßigkeit seines stinken Herrn und Meisters, dessen Gerechtsame es sich unterworfen hat, freiwillig und ohne Not, und also kann es keinen Betrachter überraschen, wenn das solcherart abstreitende Menschtier auch um die Sache mit der Tiefe und der Kultur einen fast undurchdringlichen Nebel erzeugt. Nehmt den mallen Alten und den Prägnanten. Mütze und Stiefel. Denkt euch diese beiden Ehrenmänner, wie sie nebeneinander am Fenster stehen und hinunterblicken auf die Straße und gemeinsam das Volk da unten verachten. Das Volk. Das Pack, wie sie so gern sagen. Da stehen sie, Stiefel und Mütze, und blicken dem Pöbel auf die Köpfe. Wie die dumpf durch die Gassen schieben! entrüsten sie sich, Stiefel der eine, Mütze der andere, und eine erleuchtete Tasche könnt ihr euch gleich noch hinzudenken. Wie die dumpf durch die Gassen schieben! und sich des Nasenringes nicht bewusst sind, an dem sie von finsteren Mächten ihres Weges gezerrt werden, hin zu blind entselbstetem und fremdgesteuertem Konsum! Und wie sie entzückt sich hingeben diesem Konsum, diesem entäußerten, Konsum ohne eigenen Willen und vor allem ohne eigenes Urteil!

Und wenn ihr sie euch so denkt, die Mütze und den Stiefel, und die durchleuchtete Tasche gleich mit, so versteht, dass die armen Irren, also tuend, nicht nur abstreiten würden, dass sie in ihrer Verachtung der einfachen Menschen womöglich gleich sein könnten, sondern vor allem, dass die Wurzel ihrer Verachtung vielleicht eine sein könne. Eine einzige.

Sie würden vorweg abstreiten, dass sie die einfachen Menschen da unten in den Straßen als das Pack betrachteten und sich selbst als die höheren Menschen. Sich selbst als was viel Besseres. Versteht mich recht, der Nachhall des Wortes „Pack“ würde noch zittern in der Luft, da würden sie das Ding schon abstreiten.

Niemals! würden sie empört auffahren, sowas haben wir doch nie gesagt! was für Worte werden uns da in den Mund gelegt! wie werden uns da die Worte im Munde herumgedreht!

Und der Prägnante würde anheben, vom Verblendungszusammenhang zu predigen, und der malle Alte, aus guten Gründen etwas schwiemeliger, von Tiefe und Gefühl und Kultur, womit er der Pferdeschnauzigen schon näher käme, als ihnen beiden lieb gewesen wäre, und die Tasche würde zahllose Dinge wissen vom Lügen des Patriarchats und von männlicher Gewaltkultur, und von ihren vorgeblich so verschiedenen Standpunkten aus würden sie sich vortasten, vorantasten zu dritt und unabhängig voneinander zu der gemeinsam gewussten Wahrheit, Leuchterwahrheit, dass hinter all dem, hinter all der Verblendung und Entfremdung und Außensteuerung tückisch doch jedenfalls die Anderen steckten. Das darf man heute ja gar nicht mehr sagen! aber was wahr ist, muss wahr bleiben! Und vollends, dass sie alle drei, der Prägnante und der malle Alte und die leuchtende Tasche, und sie drei allein, und höchstens noch die wenigen ihresgleichen, die Fahne der Kultur hochhielten, darin wären sie sich einig, und in unserer Kulturkritik, darin treffen wir uns ja! würden sie sich versichern.

Und darin trafen sie sich wirklich. Wie die Pferdeschnauzige, hielten auch sie sich für kultiviert. Für kultiviert bis in die Fingerspitzen.

Warum hab ich mir das so lange gefallen lassen? rätselte der Junge. Warum hab ich das so lange mitgemacht? Warum bin ich mit tastend ausgestreckten Händen wie blind im Nebel herumgetappt, wiewohl ich doch den Kompass längst in der Hand hielt?

Sehen wir mal zu.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 02.02.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)