Guckkasten

„Das ist genug“, rief Aslan von außen und meinte die Breite des Durchbruchs. „Jetzt holen wir erst die Tiere heraus …“

Er kam hereingehinkt in’s Gebüsch – das Gehen fiel ihm sichtlich schwer – und trat zu den Ochsen, ruhig auf sie einredend.

Zuerst das Geschirr, heruntergehoben das geschwungene Joch, einige Zugleinen waren gerissen, doch war das das kleinste Übel.

Diogenes Laërtius bespähte mit aufmerksamem Ochsenblick die Anstrengungen der Männer, ihn zu befreien, indes Inge ihn am Halfter festhielt. Es gab ein gewisses Gedränge, das Joch verfing sich beim Herabheben zwischen den Ästen, es bedurfte einiges Geschiebes und Gezerres, um es wieder frei zu bekommen, doch war endlich auch das geschafft.

„Nun komm“, sagte Inge, und Diogenes Laërtius folgte ihr, nicht geradezu widerwillig, aber doch mit Bedacht und Vorsicht, einem gewissen Misstrauen sozusagen. Inge führte ihn durch die frisch geschlagene Bresche hinaus in’s Freie, wo er blinzelte vor dem Sonnenlicht, und gesellte ihn Moses Maimon  und Hermes Trismegistos zu, die, gebunden an ihre Birke, behaglich vor sich hin weideten.

„Ah“, sagte Grand Mère und freute sich, das große Tier zu sehen, „er ist wieder ganz ruhig, was?“

„Es scheint so“, antwortete Inge nuschelnd und streichelte die samtene Ochsennase, bis er den Kopf senkte und im Gras zu rupfen begann.

Drinnen im Gebüsch hatten die Männer mit Cornelius Agrippa größere Schwierigkeiten, denn er weigerte sich, aufzustehen. Er lag auf dem Bauch im niedergewalzten Gesträuch wie in einem Nest, die Beine unter den Leib geschlagen, gar nicht unähnlich einer Katze, die die Pfoten einrollt, und schaute mit einem gewissen Interesse zu, wie seiner Leibesfülle mit blitzenden Axtschlägen Raum geschaffen wurde in den Büschen; doch aufstehen, das wollte er nicht.

„Was machen wir?“ fragte Roger stirnrunzelnd. „Soll ich ihm mal ein bisschen den Schwanz verdrehen?“

„Bloß nicht“, antwortete Aslan erschrocken, „ich glaube, er ist noch verwirrt, wer weiß, wie er reagieren würde, am Ende geht er wieder durch …“

Normalerweise war das schon ein gutes Mittel, einen unwilligen Ochsen auf die Beine zu bringen, vom Schwanz her … aber zur Gewohnheit werden sollte es nicht, es war ja schon recht grob, und die Tiere konnten es übel nehmen, nicht zu Unrecht.

„Holen wir Grand Mère“, sagte Aslan, einen Entschluss fassend.

Grand Mère kam auf die Rufe aus dem Gebüsch herbei, das Feuer ließ sie in Magdalenas Obhut, und Aslan wies ihr das Problem.

Sie fing es geschickt an, besser, als es einer der Männer vermocht hätte, sie nahm das widerspenstige Tier beim Halfter, zog ein bisschen, redete freundlich und verständig mit ihm, dass er sie anschaute, aus schwarzen Augen, dann streichelte sie ihn zwischen den Hörnern und auf der Nase, und immer mal wieder gab sie einen kleinen, auffordernden Zug am Halfter, damit ihm so nach und nach klar werde, was man von ihm wolle.

Schließlich stellte er das eine der untergeschlagenen Vorderbeinen nach vorne aus, dass er unter der Brust eine Stütze habe, und nach einigen weiteren ermunternden Zurufen begann er, grollend die Hinterkeulen zu rühren, scharrend im Waldboden, und er hob die schwere Wamme, dass es aussah, als hebe sich ein Berg aus dem Meer, oder der graue Buckel eines Wales.

Ist erst einmal der Hintern oben, folgen die Vorderbeine ganz von selber.

„So“, sagte Grand Mère zufrieden, „jetzt komm hier raus …“ Und sie führte ihn am Halfter nach draußen, ein bisschen ließ er sich schon ziehen, machte einen langen Hals, aber er kam doch mit, und Grand Mère band ihn fest neben den anderen, auf der Wiese, dass er grasen könne.

Da waren die vier schwarzen Tiere wieder beisammen, und sie rupften im Gras und hakelten zuweilen seitlich mit den Hörnern, weil ihnen das gefiel.

Die dunkle Blume über der Silberstadt hatte oben, ganz weit oben, so hoch, wie kaum ein Vogel stieg, eine kalte Luftschicht erreicht, die ihr das Weiterklettern verwehrte, und so floss an der Spitze der Säule flach der Trichter auseinander, sich nach und nach wandelnd zur Gestalt eines Tellers – merkwürdig sah das aus, als stieße der Rauch gegen ein festes, doch durchsichtiges Hindernis, gegen Glas etwa, oder eine Platte von klarem Eis; so scharf und endgültig war die Grenze.

„Ist dort die Welt zu Ende?“ fragte Eluard beklommen.

„Nein“, antwortete Aslan, „aber eine Grenze ist dort schon … siehst du, noch darüber erheben sich die Wolken.“

Das stimmte, die Kiellinie der dicken weißen Wolkenschiffe schwamm genau in jeder Luftschicht, die dem Weitersteigen des Rauchs Einhalt gebot; und ein erstaunlicher und unbestimmt erschreckender Anblick war das, wie der schwarze Qualm sich ausbreitete, als hielte jemand einen mächtigen, unsichtbaren Deckel darüber, an dessen Unterseite er jetzt gemächlich entlangkroch.

„Wie das wohl von oben aussehen mag?“ fragte Inge, die, wie alle anderen mit der Hand die Augen beschattend, nach oben blickte.

„Ganz flach“, antwortete Roger versonnen, „eine schwarze, platte Fläche, wie … ja, wie eine Stuhlfläche …“

„Ein Stuhl?“

„Ja, ein Sitz oder ein Hocker mit einem einzigen Bein … und man könnte sich oben drauf setzen und die Beine runterhängen lassen und die Nase in die Wolken stecken …“

Die Jungen lachten, sogar Waldemar, und Grand Mère schüttelte amüsiert den Kopf, es ging mal wieder durch mit dem guten Roger, das geschah eben dann und wann, gar nicht so selten …

„Machen wir weiter“, sagte Aslan, der aus dem Gebüsch herausgetreten war. „Wir müssen zusehen, hier bald fertig zu werden … schon hoch steht der Nachmittag, und keinesfalls können wir hier die Nacht verbringen, also müssen wir noch weiter des heutigen Tages.“

Er hatte recht, alle wussten sie es, und so machten sie sich mit großem Eifer wieder an die Arbeit, schlugen Äste aus, fällten einige der schlanken Birken, wobei sie Seile um die Wipfel schlangen, um den fallenden Bäumen die richtige Richtung zu geben; und die Blattwedel und schlanken Stämmchen der Haselnussbüsche mehrten sich am Wiesenrand.

Die Sonne ging zur Rüste, als sie endlich fertig waren. Einen breiten Weg hatten sie hineingeschlagen in die Gebüschinsel, man konnte nun in’s Innere hineinschauen wie in einen Guckkasten, oder wie durch ein offenes Tor in’s Innere einer Scheune. Drinnen stand der Wagen, die Deichsel gesenkt, und wartete darauf, hinausgezogen zu werden.

Aus den Blättern und aus der sonnedurchwärmten Wiese stieg der Duft des Abends.

(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 28.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)