Magdalena hütete Moses Maimon und Hermes Trismegistos und streichelte die dicken Ochsennasen, und Inge kämpfte am Flussufer mit Waldemar, der sich nicht ausziehen lassen wollte, weil die Kleidung dabei über die verletzten Hautteile streifen würde. Eluard, nach wie vor die kleine schwarze Katze auf dem Arm, die sich tragen ließ wie ein Spielzeugtier, hockte auf der Uferböschung und schaute immer wieder hinüber zur Silberstadt, zu dem dunklen Grollen, das auf seinem festen Körper die schlanke Trompete aus Rauch balancierte.
Grand Mère zog Aslan zum Wasser hinunter und machte sich an die Arbeit.
Indessen ging Roger zu Magdalena und erklärte ihr, was die beschlossen hatten; und sie nahmen die Ochsen bei den Halftern und führten sie über die Wiese zur Gebüschinsel.
Der Boden war ziemlich eben, es holperte und rumpelte nur wenig, kaum stärker als auf dem Weg, und sie folgten einfach der Spur, die Rogers Ochsen bei ihrer Flucht in’s Gras gewalzt hatten; das richtete sich allgemach schon wieder auf.
„Du bist wieder ganz gesund, was?“ fragte Roger, und fügte hinzu: „Ich bin froh darum …“
Magdalena blickte angestrengt hinunter in’s Gras, als hätte sie Angst, fehlzutreten, und antwortete: „Wie steht es mit Inge?“
„Mit Inge?“ fragte er zurück, verblüfft und angespannt zur gleichen Zeit. „Es geht … es geht wie immer …“
„Sie ist doch ein gutes Kind“, sagte Magdalena leise, „und sie meint es auch gut mit dir, glaub mir …“
Da war Trauer, in all der Wirrnis, zwischen dem Feuer über der Silberstadt, den lächerlichen Verletzungen, den durchgegangenen Ochsen.
„Was soll ich tun?“ fragte Roger.
Ein Satz regte sich, irgendwo, in den Fernen unbegangener Gelände, trieb durch viele Dunkelheiten, und Schleier wurden beiseitegezogen; und aus dem Dämmer wurden die Worte klar.
„Ich bin sehr allein“, sagte Roger.
Magdalena schaute auf und blickte ihn an, mit halbem Lächeln, und Mitleid, und großer Zärtlichkeit.
„Ja“, sagte sie, „aber das ist nun einmal so …“
Er wandte schnell den Blick von ihr, und verstand, dass sie wusste; das hatte er immer gewollt, und war kein Weg gewesen, es ihr mitzuteilen.
„Es … wir hatten große Angst … um dich … in Dietrichs Haus“, fing er wieder an, verzweifelt, er wollte nicht aufgeben.
„Ja“, antwortete Magdalena und runzelte die Stirn, „das war seh gut von euch … von euch allen … aber jetzt bin ich ja wieder da, bei euch … bei meinem Mann …“
Es war hoffnungslos, er verstand es wohl, er begriff auch, dass er dem Gespräch eine andere Wendung geben müsse, sein Schweigen war schlimmer als ein lautes Bekenntnis, aber er hatte nicht die Kraft dazu, nicht die Kraft und nicht den Mut, sein Kopf war ganz leer.
Sagen manche, es sei klug in jedem Fall, klare Verhältnisse zu schaffen. Im Ernst? Höheren Lebenswert besitze die Klarheit als die Hoffnung, die Illusion, das sanfte Dunkel?
Lange kann sich einer im Vielleicht bewegen, im fort und fort hinausgeschobenen Irgendwann, und kann seine Kraft und Stütze daraus ziehen.
Für einen Augenblick wünschte Roger verzweifelt, er hätte nichts gesagt, hätte den Mund gehalten, dann wäre alles verblieben im leichten Fluss und Ungefähr, in der Mondnacht der Möglichkeiten, und er hätte sich einzurichten gewusst in der Ungewissheit, wie er es bisher ja auch getan hatte, wenn es nur erhalten bliebe, das Vielleicht …
Mag sein, es war gar nicht Magdalena, die er gewollt hatte, sondern die Offenheit seiner Zukunft, die Fülle der Wege, die liebliche Vielfalt; jetzt aber waren die Schlagbäume gefallen, und die Straße lag vorgezeichnet vor ihm, da war keine Wahl, und es war auf einmal sehr hell um ihm, mitleidlos hell wie an einem Frosttag, wenn die Sonne die Dinge benennt bis auf den Grund, und es ist kein Ort, wohin zu fliehen.
„Was hast du?“ fragte Magdalena und sah ihn an, sie wollte, dass er weiterrede, sie war eben doch ein Mädchen, neben allem anderen …
„Ich bin müde“, sagte er abwehrend. „Als hätte ich viele Nächte lang nicht geschlafen …“ Dann fiel ihm wieder einer jener Sätze ein, die er selbst nicht verstand, und sie hatten doch ihren Sinn, vielleicht, und er sagte: „Das ist die Nacht der übergroßen Helligkeit.“
Magdalena sah verwirrt in’s Gras hinunter, in die Kräuter, sie fühlte Unruhe in sich, vielleicht war doch alles nur ein Traum gewesen, aber sie konnte ihn doch nicht fragen: „Liebst du mich?“
Da kann einer eine klare und festgelegte Zukunft haben, und müsste sie wissen, und zieht es doch hinaus, sich ihr zu stellen. Kommt aber der Tag, unvermeidlich, da steht sie vor ihm und er muss ihr endlich, endlich in’s Gesicht sehen.
Rogers Zukunft hieß Inge, und ihr Gesicht war eher unansehnlich im Augenblick, denn sie hatte eine geschwollene Nase, so war das.
Roger schöpfte Luft, dass es klang wie ein Schluchzen, trocken und verzweifelt, und er sagte mit harter Stimme: „Da sind wir … wir schirren die Ochsen aus, dann holen wir die anderen …“
Magdalena war neugierig, sie ging um die Gebüschinsel herum und ließ sich den festgeklemmten Wagen zeigen, auch sie verstand nicht, wie das hatte passieren können … und sie ließ es sich zeigen, und sie waren beide da ganz allein hinter den Büschen, sie und Roger, und Roger war wie gelähmt und vermochte nicht zu tun, was er doch hätte tun müssen, wenn es noch einen Rest von Hoffnung für seine Sache geben sollte, und dann hatte Magdalena alles gesehen, und sie kamen wieder hervor hinter den Sträuchern, und es war alles vorbei, endgültig vorbei.
Sie schirrten die Ochsen aus, banden sie fest an einem kräftigen Birkenstamm, an langem Seil, dass sie grasen konnten, Rogers Tiere ließen sie noch zwischen den Büschen, wie sie waren, das war eine heikle Arbeit, und je mehr Hände sich daran beteiligen würden, desto besser.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 24.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)