Mittlerweile brauchte sie die Gewalt nicht mehr. Sie hatte die Worte, die taten ihren Dienst ebenso gut wie Schläge und noch viel besser, sie redete von den kultivierten Lesern, die einzig dies Buch verstünden, die einzig diese Autorin verstünden, diese Frau! Und er wusste, der Junge, er war einer von denen, die niemals dies Buch verstehen würden, er war einer von den Unkultivierten, vor allem aber einer von den Unreifen, er war der Unreife schlechthin, das Schwein, das Finsterwesen, das Stück Dreck.
Vor allem war er keine Frau, kein Heilwesen, er war Mann, der letzte Dreck.
Nein, sie bedurfte der Gewalt nicht mehr, alles geschah wie von selber.
Sie setzte es durch, dass er herbeikam, wenn sie schlüsselte im Schloss, wie hatte sie das gemacht?
Im Augenblick, da sie die Wohnung betrat, betrat sie ihre Bühne, war grandios und tragisch, vor ihrem dumpf glotzenden Publikum.
In ihrer Redaktion war sie nicht grandios und nicht tragisch, sie war ein Rädchen im Getriebe, das zu funktionieren hatte, und ihre Kollegen waren alle Journalisten, also selber grandios. Der Junge glaubte jahrelang, ganz im Ernst, sie sei die Leiterin des Feuilletons, er wusste nachher selbst nicht vor sich anzugeben, woher ihm dieser Eindruck zugeflogen war. Hatte sie es behauptet? Sicher nicht. Sie hatte es durchblicken lassen, sie hatte es gespielt und dargestellt, so wie sie ihr Kennertum spielte und darstellte, was die „Kunst“ anbelangte. So wie sie spielte und darstellte, das Alphabet zu können. Der Junge hatte nie gefragt, was denn ihre Stellung sei in der Redaktion. Aus der Tatsache, dass er niemals gefragt hatte, schloss er hinterher, dass es auch da ein Frageverbot gegeben hatte. Frageverbot so wirkungsvoll, dass er erst nach Jahren, kurz vor seinem definitiven Abgang aus der Angsthöhle, auf den Gedanken gekommen war, einfach das Impressum ihrer Zeitung zu lesen. Es verstand sich von selbst, und er verstand sich selber nicht. Hatte die Zeitung über Jahre Tag um Tag in der Hand gehalten, und hatte das Einfachste nicht getan, hatte nicht nachgelesen am Ort, da unumwundene sachliche Wahrheit zu lesen stand über die Hohe Frau. Hatte nicht nachgelesen, so vermutete er als alter Mann, weil es schlichtweg verboten gewesen war, ihr hinterherzufragen. Frageverbot. Tatsächlich war Feuilletonchef ein anderer gewesen, sie hatte die Ressorts Musik und Frauen zu verwalten, ganz recht, die Frauenseite, deren einziger Inhalt war: Frau hat recht, und die Männer sind schuld. Der Frauenseite wegen war sie wohl hauptsächlich eingestellt worden, aber sie schien es verstanden zu haben, vielleicht noch von dem Job in der alten Stadt her, sich als Musikkennerin aufzuspielen, ihren Chef interessierte am Theater nur das Schauspiel, so fand man zu befriedigender Arbeitsteilung, Urteilsfähigkeit und die Tatsächlichkeit von Kenntnissen, wen kümmerte das, man war unter Journalisten.
Und sie kam heim, und saß, und naste. Vor ihrem Jungen, dem Bengel, ihrem Publikum.
Der Junge starrte, hilflos. Er war sich nicht einmal bewusst, dass er starrte. Er starrte wie hypnotisiert, befeuert durch die Erwartung, dass jederzeit die flitzdresche Schlaghand hervorschnellen könne aus der Figur, ihm flach ins Gesicht klatschend, dass er purzelnd herunterstürze vom Stuhl. Es konnte jederzeit passieren, er wusste das aus jahrelanger Erfahrung, so glotzte er der Maschine hinein in die Teigfassade, merkend auf Anzeichen von Gefahr und Drohung, von Stimmungswechsel. Der Stimmungswechsel konnte so plötzlich kommen wie ein Witterungsumschlag in den Tropen des Planeten. Die knochige Katze saß auf einem Stuhl anbei und putzte sich, nach Katzenart erst die Pfote leckend, dann damit den Kopf reibend, konzentriert, selbstversunken.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 23.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)