Sie brachte es fertig, von einem Buch zu schwadronieren, das sie gelesen.
Niemals hatte sie ein Buch gelesen, der Junge wusste das. Woher waren ihr Titel und Name der Autorin zugeflogen? Wenn sie ein Buch lobte, notabene, war es von einer Frau geschrieben worden, denn Frau ist hoch und weihevoll, Männer können sowas ja gar nicht, Männer sind stumpf und dumpf. Frauen sind Hohe Frauen, einfach so und ganz von selber. Hatte die Pferdeschnauzige demnach eine Rezension in einer der Frauenzeitschriften gelesen. Lesen konnte sie ganz flott. Warum nur fasste sie niemals Bücher an? Weil die doch größtenteils von Männern geschrieben waren, von schmutzigen Männern? Hatte sie Angst, sich zu beschmutzen, wenn sie das schmutzige Buch eines schmutzigen Mannes anfasste? Oder die Rezension einer freien Mitarbeiterin war auf ihrem Schreibtisch gelandet, Schreibtisch der Redakteurin der Frauenseite.
Wie auch immer.
Sie rodomontierte von dem Buch, und versicherte, träumerisch am Kopf des Jungen vorbeisehend, das alles könnten nur „reife“ Menschen verstehen. Das sei ein Buch für „reife“ Leser.
Einst, als er ein ganz kleines Kind war, hatte er Geburtstag gehabt und der Sitte der Zeit und des Ortes entsprechend Geschenke erhalten. War möglicherweise der erste seiner Geburtstage, an den er sich später erinnern konnte. Das Geelter konnte der Feier nicht ausweichen, die Kraft des Brauchs war stark, seine Einhaltung wurde in Schule und Verwandtschaft observiert. Ein Buch lag auf dem Gabentisch. Buch mit pastellenen Illustrationen, Tiere darstellend, Tiere im Wald, kleine Tiere, Schutz suchend im Unterholz. Träumerisch, ganz hängendes Augenlid, blätterte die Pferdeschnauzige durch das Anbot, vor dem Blick des Jungen, und sprach, sanft, traurig, grüblerisch: Wir waren in der Buchhandlung und haben das für dich ausgesucht. Erst zu Hause haben wir gemerkt, das ist was ganz Wertvolles, für Kinder ist das eigentlich viel zu schade.
Und gab es dem Jungen in die Hand.
Bei späterer Gelegenheit, da war der Junge schon größer, hatte er zufällig ein Buch in der Hand gehabt, als sie über ihn kam, über ihn kam aus später nicht mehr erinnerlichem Grund, und sie hatte ihm ins Gesicht geschrien, bevor der Hagel der Schläge einsetzte:
Verstehst du überhaupt, was du da liest? Sitzt da rum und tut, als ob er liest, damit wir ihn bewundern, ich hab dir dies Buch in die Hand gegeben, ich! ich! ich! ich hab gedacht –
und bei diesen Worten begann sie, über seinen Kopf hinweg, kreischend sich an ein imaginäres Publikum zu wenden
– ich hab gedacht, der versteht das, Menschlichkeit! Anstand! Kultiviertheit! aber da ist ja gegen die Wand gepredigt, versteht ja kein Wort, der Flegel, unreif der Bengel! total unreif! sowas von unreif!
und dann hatte das Dreschen eingesetzt, mit beiden flachen Händen, dem Bengel hinein ins Gesicht, von rechts und von links, und er stand, Eis in den Adern, und rührte sich nicht, wehrte sich nicht, bis er zu Boden ging.
Die Worte „unreif“ und „kultiviert“ waren auf die eine oder andere Weise stets Vorbote von Schlägen gewesen. Wahrscheinlich zuckte der Junge deshalb zusammen, wenn er sie hörte, jedes Mal. Konditionierter Reflex, als solcher bestens koordiniert. Inzwischen war er vierzehn. Die Pferdeschnauzige schlug nicht mehr zu, er wusste das noch nicht, er rechnete stets und jeden Augenblick mit dem Gewaltausbruch. War sie zugegen, stand er unter Strom. Was das anbelangt, er stand immer unter Strom. Aber in ihrer Gegenwart empfand er pure Angst. Es war noch nicht einmal die Angst vor blinder Gewalt. Es war die Angst vor dem stechenden Hass, dem Hexenhass, der zu ihm brüllte aus dem Nadelblick der fischblauen Augen, Augen eines verwesenden Fisches:
Du bist kein Mensch, du bist ein Stück Dreck, du bist ein Belästiger, du bist eine einzige Beleidigung, du bist lebensunwertes Leben.
(Peter von Mundenheim, unveröffentlichtes Manuskript, dieser Ausschnitt veröffentlicht auf dieser Seite 21.01.2023, © Verlag Peter Flamm 2023)